SALVA (Sturmflut) (German Edition)
Schnittwunde an meiner Wange und dann über die Wunde an
meiner Stirn. Ich wusste, Verletzungen fühlte sich immer schlimmer an als sie
aussahen, ein natürlicher Mechanismus des Körpers um schneller auf Schäden zu
reagieren, aber sie fühlten sich sehr schlimm an.
„Keine Angst. Du siehst immer noch
wunderschön aus.“ Aljoscha lächelte mich wie immer an und wischte mir ein paar
nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ob ich gerade hübsch aussah, war
weniger meine Sorge. Ob ich Narben zurückbehalten würde schon eher, aber ich
sprach es nicht aus. Veit zog bei Aljoschas schmeichelnden Worten die
Augenbrauchen hoch. Vermutlich dachte er an eine platte Anmache zum denkbar
ungünstigsten Zeitpunkt. Er konnte nicht wissen, dass Aljoscha nun mal so war
und diese Worte keine spezielle Bedeutung hatten.
„Gut zu wissen.“ Ich versuchte das
Lächeln zu erwidern, aber wie so oft versagte ich dabei. Mein Körper zitterte
immer noch erbärmlich und ich hatte kaum Kontrolle über meine Gesichtszüge.
Aljoscha zog seine Jacke aus und legte sie mir um die Schultern, doch es half
nicht wirklich. Auch seine Kleidung war noch immer völlig durchnässt.
„Wir sollten uns auf den Weg machen, um
so viel von der Strecke wie möglich bei Tageslicht zu schaffen.“ Mit diesen
Worten stand er auf und zog mich auf die Füße. Mir entwich ein leichtes Stöhnen
und kaum hatte ich das verletzte Bein belastet, spürte ich den Schmerz noch
deutlicher. Mich überkam der Gedanke, auf keinen Fall gute 40 Kilometer mit
dieser Verletzung laufen zu können. Allein bei dem Gedanken, wollte ich vor
Frustration weinen, doch ich schluckte es runter. Wir gingen los und jeder Schritt
war die reinste Qual. Ich hatte die Hoffnung, mich nach einer Zeit an den
Schmerz zu gewöhnen, aber das passierte nicht. Die unaufhörliche Kälte machte
mir noch zusätzlich zu schaffen. Es gab keinen richtigen Weg und die
Landschaft, durch die wir uns bewegten, war eine verwilderte Mischung aus Wald,
Feldern und Moor. Ich hatte nicht das Gefühl, wir würden uns auf ein bestimmtes
Ziel zu bewegen, doch Aljoscha schien genau zu wissen, wohin wir gehen mussten.
Der Fluss war nicht zu sehen, doch dafür gut zu hören. Das Wasser rauschte mit
einer gewaltigen Kraft und ich war erstaunt, wie wir es überhaupt hinaus
geschafft hatten. Ich kam mir vor wie ' Verloren in der Wildnis'. Es war
der Titel eines Buches, dass ich als Teenager mal gelesen hatte. Es handelte von
einer Gruppe junger Leute, die sich bei einem Ausflug in der Wildnis verlaufen
hatten und verzweifelt versuchten, wieder nach Hause zu finden. Unnötig zu
erwähnen, dass es am Ende nicht alle geschafft hatten. Wenn man keine Ahnung
vom Überleben in der Natur hat, kann sie dich auf viele verschiedene Arten
töten. Manche davon waren mir vor dem Lesen dieses Buches nicht mal in den Sinn
gekommen. Ich fragte mich, ob die einzelnen Passagen aus dem Buch auch auf das
reale Leben anwendbar waren oder ob vieles bloßer Unsinn war, um die Spannung
für den Leser zu vergrößern. Ich glaubte mich zu erinnern, dass Veit mir in
diesem Zusammenhang etwas erzählt hatte. Hatte er nicht viel Zeit in der
Wildnis verbracht? Vermutlich sah man ihm deswegen gerade keine Furcht an.
Sollten wir doch mehrere Tage hier feststecken, wüsste er was zu tun war.
„Sag mal, wie ist es so da drüben in
Russland? Falls wir es heile bis dorthin schaffen sollten, wäre ich gerne
vorbereitet auf das, was dort auf uns wartet.“ Veit riss mich mit seinen Worten
aus den Gedanken und ich musste zugeben, es interessierte mich auch. Die Welt
außerhalb von Europa war so fremd und unvorstellbar für mich. Es gab nur völlig
veraltete Informationen, aus der Zeit als man noch überallhin reisen konnte.
Europa hatte sich in dieser Zeit so drastisch gewandelt, ich konnte mir nicht
vorstellen, dass Russland noch das gleiche Land wie früher war.
„Hmmm... Ihr werdet bestimmt geschockt
sein. Es ist in vielerlei Hinsicht sehr anders als Europa.“
„Das hätte ich mir gerade noch denken
können. Wie wäre es mit ein paar Details?“ Veit hatte die Frage gestellt, doch
ich brannte ebenso auf eine Antwort. Details darüber, wie das Leben von
Menschen aussah, die frei waren. Wie funktionierte ein System, dass seine
Bürger nicht unter Drogen setzte und überwachte?
„Erst einmal gibt es keine
Einschränkungen oder
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