SALVA (Sturmflut) (German Edition)
Rationalisierungen. Rohstoffe, Essen, Strom. Es gibt von
allem reichlich. Russland ist auch ganz anders entwickelt. In den letzten 80
Jahren wurden enorme Summen in die Forschung gepumpt. Das Land ist
hochtechnisiert. Unsere Hauptstadt wird von den Russen auch Hyper-City genannt.
Man kann das mit keiner Stadt in Europa vergleichen.“ Aljoschas Worte
berichteten von einem gelobten Land, doch sein Gesicht zeigte nicht das kleinste
bisschen Begeisterung. Es war eher das Gegenteil. Ich fragte mich, ob er
schmerzhafte Erinnerungen mit seiner Heimat verband oder ob vielleicht mehr
dahinter steckte, als er uns jetzt erzählen wollte. Wer konnte wissen, auf
welchem Fundament der Wohlstand seines Heimatlandes aufgebaut war. Damit in
Europa jeder die Chance auf eine gute Ausbildung und Zugang zu ausreichend
Ressourcen für ein komfortables Leben hatte, mussten erst Millionen von einer
Pandemie dahin gerafft werden. Und selbst dieser verhältnismäßige Wohlstand war
nur schöner Schein und diente dazu, die Leute gerade zufrieden genug zu machen,
um sie bei der Stange zu halten. Ich bekam wieder ein mulmiges Gefühl in der
Magengegend. Hatte ich zu vorschnell geurteilt? Waren meine Vorstellungen von
der Welt außerhalb Europas naiv gewesen? Vielleicht war ich in einer Welt des
geringsten Übels aufgewachsen? Ich hoffte inständig, dass ich mich irrte.
„Das klingt doch nicht übel! Das heißt,
ich kann in Russland ein Stück Fleisch haben, wann immer ich will?“
„Sicher.“ Aljoscha zuckte dazu nur mit
den Schultern, als wäre dieser Umstand das Normalste auf der Welt. Für ihn war
das vermutlich auch, zumindest damals.
„Sogar Rindfleisch?“ Veits Augen wurden
groß vor Gier und auch ich spürte sofort den Hunger, bei dem Gedanken an etwas
zu essen.
„Klar, wenn du es bezahlen kannst.“
Aljoscha grinste schwach.
„Wie kommt es, dass bei euch von allem
genug da ist?“
„Im Gegensatz zu Europa ist Russland
ein ressourcenreiches Land. Bodenschätze ohne Ende und wir sind ja auch nicht
autark. Wir treiben Handel. Es kommt noch besser: Russland ist scheiß groß. Wir
haben durch den Anstieg des Meeresspiegels kaum Landmassen verloren. Im
Gegenteil sogar. Der Klimawandel hat große Teile des Landes erst ertragsfähig
gemacht. Und zu guter Letzt: Forschung. Wie ich schon sagte, sind da Unsummen
rein geflossen. Ist die Not groß, kommen moralische Bedenken erst an zweiter
Stelle. Höchstens. Dann ist fast alles möglich.“
„Wow...“ Im Gegensatz zu Veit, war dies
nicht das erste Wort, das mir nach diesen Sätzen in den Sinn kam. Das Leben
mochte in Russland selbstbestimmt und leichter sein als in Europa, doch ich
zweifelte daran, dass es schlicht besser war. Vermutlich funktionierte
kein System ohne Fehler. Konnte man die Moral wirklich gegen Fortschritt
eintauschen? Was bedeutete Moral überhaupt? Bis heute war es mir nicht möglich
diesen Begriff richtig zu erfassen. Das Wort und seine Definition existierten,
aber es war ohne Anwendung. Wie etwas aus meiner Fantasie. Am liebsten hätte ich
Aljoscha danach gefragt, doch in Veits Anwesenheit wollten die Worte meinen
Mund nicht verlassen. Ich sah mich immer wieder um, in der Hoffnung, vielleicht
ganz zufällig Gry oder Radu zu sehen. Ich wollte den Gedanken einfach nicht
ruhen lassen. Sie waren irgendwo da draußen, ich war mir ganz sicher und ich
wollte sie finden. Nicht wenigstens zu versuchen, sie zu finden, kam mir wie
Verrat vor. Radu hatte so viel auf sich genommen, nur um bei mir zu sein und
mir zu helfen. Wie konnte ich dann einfach Richtung Freiheit laufen, ohne ihn
vorher gesucht zu haben? Es kam mir so falsch vor, auch wenn Aljoschas
Ausführungen Sinn machten. Die Chancen sie zu finden, waren einfach zu gering.
Der Fluss war breit und die Strömung stark. Vielleicht waren sie auch nicht
einmal auf unserer Seite des Ufers gelandet. Wenn dem so war, könnten sie nicht
zu uns aufschließen, selbst wenn wir sie sehen würden. Den Fluss zu überqueren
wäre Wahnsinn.
Es
waren bereits Stunden vergangen und wir kamen kaum voran. Es war meine Schuld,
denn die Verletzung an meinem Oberschenkel behinderte mich zusehends. Ich
wollte nicht zeigen, welche Schmerzen ich hatte, aber es war schwer zu
verbergen. Aljoscha bot sich an, mich zu tragen, doch ich lehnte es ab. Ich
bremste uns zwar, aber so lange ich in der Lage war zu laufen, würde ich
Weitere Kostenlose Bücher