SALVA (Sturmflut) (German Edition)
soweit. Wenn
es tatsächlich acht oder mehr waren, dann hatten wir ein Problem. Ich wurde
nervös und spürte die steigende Anspannung in meinem Körper. Der Regen wurde noch
schlimmer und erschwerte uns zusätzlich die Sicht. Es war wie eine Warnung. Das
Wasser stand schon in meinen Schuhen und Ihsan ging es sicher nicht anders. So
wäre es noch schwerer zu fliehen, als ohnehin schon. Das Positive daran war,
dass auch die Schutztruppen in diesem Regen nicht gut sehen oder zielen
konnten. Wir hatten die halbe Strecke geschafft und ich zählte drei Männer.
Wenn es so blieb, wäre es zu schaffen aber meine Nervosität nahm zu. Wir liefen
noch ein paar Meter und da war Nummer vier. Ich war mir nicht sicher, aber ich
hatte das Gefühl, er folgte uns mit seinen Blicken. Natürlich, wir waren
auffällig. Wahrscheinlich hatten uns zuvor auch die anderen genau im Auge
behalten. Es war Mitten in der Nacht, es regnete in Strömen und wir liefen die
Straße am Kalemegdan ab, ohne ein Wort mit einander zu wechseln. Ich blickte zu
Ihsan und auch er wirkte nachdenklich und besorgt. Sein ganzer Körper war
angespannt, das konnte ich ihm ansehen. Wahrscheinlich gingen ihm die gleichen
Gedanken durch den Kopf wie mir. Ich dachte kurz darüber nach, ein Gespräch mit
ihm anzufangen, aber es hätte jetzt auch nichts mehr genützt. Ich sah immer
wieder kurz zur anderen Straßenseiten hinüber und da war er. Ein Durchgang in
der Absperrung. Genau wie ich gedacht hatte, an einem Mauerstück. Der Zaun hing
nur noch halb darauf und war zu einer Seite nicht mehr richtig mit dem
benachbarten Stück verankert. Der kleine Betonklotz, der die beiden Zaunteile
zusammen halten sollte, lag auf dem Gehweg. Nummer fünf war noch immer nicht in
Sicht und meine Nervosität wurde zu Angst. In meinem Kopf arbeiteten die
Gedanken wieder und auf einen Schlag wurde mir etwas bewusst.
„Von wem hast du den Zettel Ihsan?“ Ich
wusste er konnte mich höre aber ich bekam keine Antwort. „Ihsan. Von wem?“ Er
sah mich immer noch nicht an. Sein Blick wirkte beschämt. Er wollte es nicht
sagen und ich wusste den Grund. Es ging nicht um ein Versprechen. Bevor ich die
Chance hatte noch einen weiteren Satz zu sagen, sah ich ihn über die Straße zum
Durchgang laufen.
„Ihsan!“ Ich wollte seinen Namen
schreien, flüsterte stattdessen aber nur. Zwecklos. Selbst, wenn ich gerufen
hätte, wäre alles im Regen untergegangen oder hätte, im schlimmsten Fall, nur
die Aufmerksamkeit der Wachen auf uns gelenkt. Er erreichte die andere
Straßenseite und steuerte, ohne einen einzigen Blick zur Seite, direkt auf den
Durchgang zu. Bevor ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, lief ich
auch schon über die Straße. Panisch sah ich mich um und erkannte, dass die
nächste Schutztruppe in unsere Richtung kam. Für eine Sekunde blieb mein Herz
stehen. Hatte er uns schon gesehen? Ich musste etwas unternehmen, nur was? Ich
erreichte die Absperrung und Ihsan war schon halb unter ihr verschwunden.
Wieder ein schneller Blick zur Seite und da sah ich es, der Mann von der
Schutztruppe. Er lief los und setzte die Waffe an. Ich sah den Betonklotz und
mit einem Mal, verselbstständigten sich meine Gedanken. Ich griff nach einem
losen Ziegel aus der maroden Mauer, drehte mich zu ihm und warf ihn mit aller
Kraft in Richtung der Schutztruppe. Bevor mir richtig klar wurde, was ich da
getan hatte, sah ich ihn zu Boden stürzen, die Waffe viel aus seiner Hand und
rutschte über den nassen Gehweg. Es waren vielleicht nur Sekunden, bis die
nächste Schutztruppe vorbeikommen würde. Ich schlüpfte unter dem Zaun durch und
lief hinter Ihsan her. Hinter der Absperrung war ein kleine, steile
Rasenfläche. Der Boden war völlig aufgeweicht und nur noch eine matschige
Suppe. Immer wieder verloren meine Füße den Halt und ich stürzte auf die Knie.
Auch Ihsan kam nicht besser voran. Ich blickte zurück: Nichts. Meine Panik
wurde wieder schlimmer. Wir mussten weg vom Zaun und rein in den Park, in die
Dunkelheit und Schutz zwischen den Bäumen suchen. Ich raffte mich auf und
kämpfte mich mit aller Kraft den kleinen Hang hoch. Im Vorbeilaufen ergriff ich
Ihsans Hand und zog ihn mit. Wir verschwanden zwischen den Bäumen, hinter uns
laute Stimmen und dann ein metallisches Knallen. Ich vermutete, dass es die
Absperrung war, die die Schutztruppen umgerissen hatten, um uns zu verfolgen.
Ich hielt Ihsans Hand fest und lief einfach weiter, immer weiter. Die
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