SALVA (Sturmflut) (German Edition)
aber immer dicht hinter mir. Mit beiden Händen
kämpfte ich mich durch das wild wuchernde Gestrüpp der verwilderten Parkanlage.
Alle paar Schritte wurde ich etwas schneller, bis ich schließlich doch wieder
lief. Ihsan war immer noch hinter mir, aber die Distanz zwischen uns wurde
langsam immer größer. Ich versuchte darauf zu achten, dass ich ihn noch hinter
mir hören konnte. Der Regen hatte langsam nachgelassen und das Vorankommen
wurde leichter. Für einen Moment hatte ich Angst, Ihsan verloren zu haben, doch
schon im nächsten Augenblick war er wieder hinter mir. Er war völlig außer Atem
und am Limit seiner Kräfte. Ich musste ihn nicht gut sehen können um das zu
wissen. Er war nie sehr sportlich gewesen, er hatte nicht die Ausdauer, um in
einem Lauf dieses riesige Gelände zu durchqueren. Wir mussten kurz anhalten,
sonst würde er es nicht schaffen. In meinem Kopf lief eine geistige Stoppuhr
runter und mit jeder Sekunde wurde ich nervöser.
„Ihsan, wir müssen weiter, bitte!“ Er
hatte nicht einmal den Atem, um etwas auf mein Flehen zu entgegnen. Ich wollte
ihn mitziehen, zum Weiterlaufen zwingen, aber es würde alles nichts nützen.
Mit
einem Mal wurde es so hell, dass ich völlig geblendet war. Ich musste meine
Augen schließen und als ich sie wieder öffnen konnte, war das Gelände taghell
erleuchtet. Alles war zu sehen, jeder Baum, jeder Strauch, jeder Stein. Und wir
auch. Panisch sah ich nach oben. Scheinwerfer. Sie waren überall. Ganz
Kalemegdan wurde von ihnen ausgeleuchtet. Seit wann waren die hier, wann wurden
sie montiert? Ich hatte keine Ahnung. Sie waren auf so eine Situation
vorbereitet. Natürlich! Wie könnte es auch anders sein? Wie konnte ich das
nicht ahnen? Wir waren geradewegs in die Falle gelaufen. Wir waren in einem
riesigen Käfig und überall waren Flutlichter auf uns gerichtet. Ich wollte los
laufen, doch meine Beine waren wie festbetoniert und im selben Moment hörte ich
ein lautes Tosen. Ein starker Wind schmetterte uns den Regen entgegen und die
Baumkronen knickten zur Seite weg. Über uns war ein Heli und richtete noch
einen Scheinwerfer auf uns. Wir saßen in der Falle. Aus einem Lautsprecher
konnten wir eine Stimme hören, die uns dazu aufforderte die Hände in die Luft
zu nehmen. Plötzlich waren wir auch am Boden umstellt von Schutztruppen. Sie
schrien uns etwas entgegen, was in der schieren Menge der Stimmen unterging.
Mein Herz raste wie verrückt. Mindestens ein Dutzend Waffen waren auf uns
gerichtet. Ich hob ganz langsam die Hände über meinen Kopf und schaute in jedes
einzelne Gesicht der Schutztruppen, die in einiger Entfernung direkt vor mir
standen. Da war es. Das Gesicht meines Stiefbruders. Seine Waffe auf mich gerichtet
und in seinem Gesicht der blanke Horror. Plötzlich hatte ich das Gefühl, die
Zeit lief immer langsamer und würde gleich stehen bleiben. Ich sah im fest in
die Augen. Ich wollte weinen, verzog aber keine Miene. Wenn ich jetzt sterben
müsste, wollte ich als letztes sein Gesicht sehen. Auch Radu sah mich noch
immer an, doch mit einem Mal wandelte sich sein Gesichtsausdruck. Ich konnte es
nicht deuten, was war los? Sein Blick löste sich von meinem und er öffnete den
Mund, als wollte er gleich etwas schreien. Ich folgte seinem Blick und sah es.
Ihsan war los gelaufen. Ich wollte ihn packen, aber er war längst zu weit weg.
Mit einem Mal wurde mir klar, dass die Zeit nicht langsamer lief und in der
nächsten Sekunde hörte ich das laute Feuer von mehreren automatischen Waffen.
Ich sah Ihsan, sein Körper zuckte zusammen und im nächsten Moment stürzte er zu
Boden. Sein Körper zuckte mit jeder einschlagenden Kugel auf, als würden
Stromstöße durch seinen Körper jagen. Immer noch hörte ich das Feuer der
Gewehre und ein lautes, ohrenbetäubendes Schreien. Es war so laut und so
verzweifelt, dass es die Aufmerksamkeit mehrere Männer von Ihsan ablenkte und
die Waffen langsam verstummten. Sie sahen in meine Richtung und in vorderster
Reihe war mein Radu, der auf mich zu lief. Ich verstand nicht was los war, bist
mir klar wurde, dass ich es war, die schrie. Es war mein Schreien und ich
konnte nicht aufhören. Mein ganzer Körper war gelähmt vor Schock. Ich spürte
eine Hand auf meiner Schulter und im nächsten Moment versagte meine Stimme und
vor meinen Augen wurde alles schwarz.
4
Als
ich wieder zu mir kam, lag ich in einem Bett. Der Raum, in dem ich mich
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