SALVA (Sturmflut) (German Edition)
diesem Augenblick wichtig
erschien. Die Hälfte dessen, was mich am Leben erhielt. Es war wenig, aber es war
etwas.
„Ich dachte, du müsstest am Verhungern
sein.“ Anna sah auf den halb leer gegessenen Teller Suppe. Sie wirkte nett und
vertrauenswürdig, trotzdem war auch sie eine Fremde für mich. Ich entschied,
meine Trauer um Ihsan nicht mit ihr zu teilen. Sie kannte ihn sowieso nicht.
Sie würde es nicht verstehen. Es erschien mir sinnvoller, ihr ein paar Fragen
zu Stellen und mich so noch mehr von meiner Trauer abzulenken.
„Sind noch andere hier?“
„Was meinst du mit andere ?“
„Andere wie ich, die ihr gerettet habt.
Leute, die gegen die Regierung sind. Aussteiger.“ Ich war mir nicht sicher, den
Satz richtig formuliert zu haben, denn Anna zögerte mir eine Antwort zu geben.
„Eigentlich schon, aber sie sind nicht
hier. Nicht mehr.“ Sie schien nervös zu werden und ich wollte wissen wieso.
„Wo sind sie jetzt?“ Auf meine Frage
folgte ein langes Schweigen. Diese ständigen Ausflüchte stärkten nicht gerade
mein Vertrauen in Anna und Aljoscha. Man behandelte mich wie ein Kind, das
gefiel mir überhaupt nicht.
„...Manche sind jetzt außerhalb von
Europa.“ Ich hakte nicht weiter nach, sondern sah ihr nur fest in die Augen.
Ich bereitete mich innerlich auf jede mögliche Antwort vor.
„Die anderen sind... wahrscheinlich
tot. Manche sind sicher tot.“ Ich war auf etwas in dieser Art vorbereitet, doch
die Art, wie Anna es formulierte, machte mich stutzig.
„Was ist passiert? Wie meinst du das?“
Ich würde mich nicht mehr mit halben Antworten oder Versprechen, auf spätere
Erklärungen zufrieden geben. Ich wollte die Antworten und ich wollte sie jetzt.
Wie konnte sie nicht wissen, ob die Menschen, denen sie geholfen hatten, noch
am Leben waren oder nicht? Und wie sind sie gestorben?
„Manche haben die Immunisierung nicht
überlebt. Weißt du, das war nicht unsere Schuld, so etwas passiert. Es gibt
einige, die einfach zu schwach sind. Wir tun unser Bestes aber es geht nicht
immer gut.“ Sie holte tief Luft und machte den Eindruck, als würde sie um Worte
Ringen. „Andere wurden... ermordet.“
„Von den Schutztruppen?“
„Schwer zu sagen.“ Es war Aljoschas
Stimme. Er hatte die Küche betreten und setzte sich zu uns. Jede seiner
Bewegungen wirkte leicht und heiter. Er starrte auf den Teller vor mir und
grinste. „Du musst aufessen, sonst regnet es morgen.“ Ich verstand, er wollte
lustig sein, mich vielleicht aufheitern, aber meine Miene blieb wie
versteinert. Mir war nicht nach Aufmunterung und schon gar nicht nach Lachen.
„Bitte lenk' nicht vom Thema ab. Was
ist mit diesen Leuten passiert?“ Aljoscha machte eine Bewegung mit seinem Kopf
und zog die Augenbrauen hoch, als wollte er andeuten, wegen meiner abwehrenden Art, beleidigt zu
sein, aber schon sein nächster Satz ließ davon nichts mehr merken.
„Du weißt, was mit ihnen passiert ist.
Man hat sie verschleppt und an einem Ort gebracht, wo sie definitiv nicht lange
überleben werden.“ Die Bedeutung dieser Wort ließ mich für einen Moment
erstarren. Es war alles wahr. „Ich hätte dich ja gerne noch mit diesen
Informationen verschont, aber du scheinst ja wild entschlossen zu sein, heute
alles zu erfahren.“
„Ich bin jetzt ein Teil des Ganzen,
also sollte ich auch Bescheid wissen.“ Ich versuchte selbstsicher zu klingen,
doch in Wirklichkeit hatte ich Angst davor, was ich gleich noch alles erfahren
würde. „Warum das Ganze? Warum hat man sie nicht einfach hingerichtet? Die
Öffentlichkeit hätte es nie erfahren.“ Ich sah, wie Aljoscha und Anna einen
kurzen Blick austauschten. Sie wollten mir etwas verschweigen und diese
Erkenntnis machte mich wütend. „Versucht erst gar nicht mich zu belügen. Ich
will es wissen.“
„Sie werden nicht hingerichtet, weil
man erkannt hat, dass sie noch von Nutzen sein können.“ Ich konnte mir
vorstellen, was das bedeuten sollte, aber ich gab mich nicht mit Vermutungen
zufrieden.
„Meinst du Zwangsarbeit?“
„Okay, nennen wir es Zwangsarbeit.“ Er
grinste noch, aber es hatte etwas Bitteres.
„Wie soll ich das verstehen? Und was
für eine
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