SALVA (Sturmflut) (German Edition)
und
verzog keine Miene. Aljoscha zögerte einen Moment.
„...Sie werden dort zum Sterben
hingebracht.“ Meine Augenbrauen zogen sich langsam zusammen und mich überkam
Wut. Ich war kein kleines Kind mehr und wenn er glaubte, man könnte Spielchen
mit mir spielen, hatte er sich getäuscht. Ich holte schon Luft, um ihm klar zu
machen, dass er mich nicht für dumm verkaufen konnte, da sprach er weiter.
„Vielleicht ist dir schon aufgefallen, dass all diese Städte nahe an der Grenze
oder sehr nah am Meer liegen. Das ist nicht nur so, weil niemand merken soll,
was dort vor sich geht, sondern auch, weil die Nähe zur Grenze taktisch klug
ist. In diesen Städten werden die Soldaten trainiert. Sie lernen, wie man sich
in realen Kriegssituationen verhält und sie lernen zu töten.“ Mit jedem seiner
Worte wurde mir klarer, was das alles bedeutete und ich war auf einmal wie
erstarrt. Es gab doch Soldaten und es gab sehr wohl noch die Todesstrafe. All
diese Lügen. „Es sind riesige Übungsfelder, wenn du so willst. Und es werden
nicht nur Soldaten dort ausgebildet, sondern auch Schutztruppen und
Freiwillige. Die Gefangenen spielen dabei den Feind und sie zu töten ist das
Ziel.“ Ich konnte mich noch immer nicht bewegen, mein Verstand war wie
gefangen. Es klang wie eine Lüge, aber es war die Wahrheit. Ich musste es
glauben. Die Manipulation des Verstandes funktionierte in Europa so gut, dass
ich tatsächlich Zweifel hatte. Ich schämte mich für den Gedanken, dass es
schöner war mit den Lügen zu leben. Meine Vermutungen restlos bestätigt zu
bekommen, stieß mich in ganz neue Dimensionen des Horrors. Es gab kein Zurück
mehr. Ich musste mich mit dem Wahnsinn beschäftigen und ihn als traurige
Gewissheit akzeptieren. Das war die Welt, in der ich aufgewachsen war. 19 Jahre
in einer konstruierten 'Realität' .
„...Mein Vater war dort.“ Meine Stimme
war leise, fast gar nicht zu hören. Ich hatte das Gefühl mich übergeben zu
müssen und beugte mich vor, aber nichts kam. Ich bekam gar nicht mit, wie mein
Atem immer schneller wurde. Ich merkte es erst, als meine Hände langsam taub
wurden. Ich versuchte mich zu beruhigen und schloss wieder die Augen.
„Ich weiß. Deshalb wollte ich es dir
eigentlich auch nicht sagen.“
„Wie kann das sein? Das... das kann
einfach nicht sein.“ Ich sprach zu mir selbst, doch Aljoscha antwortete mir.
„Doch es kann und glaub mir, das ist nur
die Spitze des Eisbergs. Du hast nur eine winzige Idee davon bekommen, welche
abscheulichen und perversen Dinge auf diesem Kontinent vor sich gehen. Das wird
alles vor euch geheim gehalten und wie du siehst, funktionierte das erstaunlich
gut. Zumindest hat es das bis jetzt.“ Ich hob meinen Kopf und sah ihn fragend
an. Es war mir zwar nicht klar, wie viel Wahrheit ich heute noch ertragen
könnte, aber es lenkte mich von den Gedanken an meinen Vater ab. „Europa
befindet sich zwar schon länger mit diversen Ländern im Krieg, doch bis jetzt
gab es kaum aktive Angriffe. Das hat sich vor einigen Wochen geändert.“
„Wieso?“ Ich richtete mich wieder auf
und versuchte mich zu beruhigen.
„Als durch Spione, wie mich, langsam
die Information nach außen drang, dass es Orte hier gibt, wo Menschen gezielt
getötet werden, um die Soldaten auf den Krieg vorzubereiten, hat man
entschieden zu handeln. Aber es ist schwierig. Europa hatte Jahrzehnte Zeit
sich abzuschotten und seinen Schutzwall gegen die Außenwelt zu perfektionieren.
Sie schrecken vor nichts zurück um die
bestehende Ordnung zu wahren. Außerdem... wächst auch der Widerstand von innen.
Du bist nicht allein Milla, es gibt noch andere Menschen wie dich. Sie sehen
die Wahrheit und sind bereit zu kämpfen.“ Langsam ergab es einen Sinn, warum
man von einem Krieg nichts mitbekam. Das alles klang so unglaublich und doch
fiel es mir jetzt nicht schwer jedes einzelne Wort zu glauben. Der Gedanke
daran, wie mein Vater tatsächlich ums Leben kam und Ihsans Vater vermutlich
auch, riss ein weiteres Loch in mein Herz. Seit Jahren hatte ich darauf gehofft
es einmal zu erfahren und jetzt, da ich es wusste, wollte ich dieses Wissen
wieder auslöschen. Es war so grausam, so würdelos. Mein Vater wurde irgendwo,
in einer verlassenen Stadt erschossen, gejagt wie ein Tier und ohne die Chance
zu entkommen. Für den Soldaten, der ihn umbrachte, war er nicht mehr als
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