SALVA (Sturmflut) (German Edition)
belastete mich sofort.
„Wenn man jeden Lebensmut verliert,
dann schon.“ Für einen Moment war ich völlig fassungslos. Ich starrte Anna an.
„Ich musste mich ändern und ich wollte mich ändern. Ich wollte jemand sein, mit
dem ich selbst auch leben konnte. Ich wollte mich nicht mehr selber hassen.“
„Warum hast du dich gehasst?“ Ich
wollte nicht bohren aber die Neugier ließ den Satz einfach aus meinem Mund
schießen.
„Das ist eine lange Geschichte Milla
und darüber zu reden fällt mir schwer. Lass uns einfach sagen, ich habe in der
Vergangenheit viele Entscheidungen getroffen, mit denen ich dann nicht sehr
glücklich war. Aber ich habe gelernt, damit umzugehen.“ Wir sahen uns nur an
und schwiegen. Ich wollte sie nicht mit noch mehr Fragen löchern. Darüber zu
sprechen fiel ihr sichtlich schwer. Mir wurde klar, dass ich sie nicht falsch
eingeschätzt hatte, aber auch nicht völlig richtig. Hinter ihr steckte mehr,
als ich bis jetzt bemerkt hatte. Es war ein Blick auf die echte Anna. Sie war
kein vollkommener Menschenfreund. Auch sie handelte nach ihren ganz eigenen
Motiven, doch daran war nichts verwerflich. Ich war mir einfach sicher, dass
hinter dieser Geschichte noch mehr steckte, dass Anna noch mehr bewegte, als
sie zugeben wollte. Ich war mir sicher, im Inneren kämpfte sie nicht weniger
Kämpfe als ich.
An
meinem vierten Tag brachte mir Aljoscha neue Kleidung und Stiefel mit. Die
Sachen saßen perfekt und waren vor allem funktional. Die Hose war aus dichtem
Stoff und schwarz. Das Shirt und der Pullover waren grau, aus Baumwolle und
lagen eng am Körper an. Die Jacke war dunkelgrün, regenfest und hatte eine
Kapuze. Als ich die Sachen sah, wurde mir klar, dass es bald losgehen würde. Am
folgenden Tag verließ Anna das Haus und kam nicht wieder. Von Aljoscha erfuhr ich,
dass sie bereits aufgebrochen war, um an der Grenze auf uns zu warten. Ich war
etwas traurig, dass sie gegangen war ohne sich zu verabschieden. Wenigstens
würde ich sie an der Grenze wiedersehen. Am Abend bat mich Aljoscha, die neuen
Sachen anzuziehen. Ich tat es ganz langsam und gewissenhaft. Den Moment noch
einmal zu verinnerlichen war mir wichtig. Dieses 'Festhalten' von Eindrücken
war zu meiner eigenen kleinen Zeremonie geworden. Als ich zu ihm ins Wohnzimmer
kam, hatte er bereits seine Jacke an und ein Rucksack stand in der Ecke. In
seiner Hand hielt er ein Injektionsgerät. Als ich es sah, fuhr ein Schock durch
meine Glieder.
„Keine Angst. Da ist dein neuer Chip
drin. Und selbst, wenn es etwas anderes wäre, du bist jetzt immun, schon
vergessen?“ Er lächelte und streckte die Hand aus. Ich gab ihm mein Handgelenk
und er setzte das Injektionsgerät an. Nach einem kurzen Stechen war alles
vorbei. „Dein Name ist jetzt Radmilla Korvac.“ Ich verzog kurz das Gesicht.
„Sehr einfallsreich.“ Ich konnte mir
ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen und an Aljoschas Gesicht konnte ich
erkennen, dass ihn das sehr positiv überraschte. Ich schämte mich zwar für den
Gedanken, aber ich war froh, dass er er froh war. Es war mir immer noch ein
Rätsel, wie jemand so lebhaft und gelassen bleiben konnte, trotz all der
Grausamkeiten die es täglich auszuhalten galt. Er war besonders, auf mehr
Arten, als man zuerst sehen konnte. Es war nicht nur sein Blut, sondern sein
ganzes Wesen.
„Okay, lass uns gehen. Versuch dich
ganz normal zu verhalten.“
Wir
fuhren zusammen zum Hauptbahnhof in der Innenstadt. Ein weiteres, massives
Bollwerk aus Tonnen von Glas und Beton. Es verschmolz förmlich mit den tiefen
Regenwolken. Erst im Inneren, zwischen all den Menschen, wurde mir klar, wie
schwer es war, sich 'natürlich'zu verhalten. Alles, was in den letzten
Wochen geschehen war, hatte mich verändert. Mit einem Mal erschienen mir alle
Menschen merkwürdig und ich hatte das Gefühl, beobachtet und angestarrt zu
werden. Ich hielt nach Schutztruppen Ausschau. Es bestand die Gefahr, dass
einer von den Männern hier war, die Ihsan und mich damals in Kalemegdan
gestellt hatten. Oder sogar Radu. Bei diesem Gedanken lief mir ein Schauer über
den Rücken. Ein Teil von mir wünschte sich verzweifelt, ihn wiederzusehen, ein
anderer Teil konnte allein den Gedanken daran schon nicht ertragen. Der Bahnhof
gehört zu den größten öffentlichen Bauten in der Stadt. Auf zwei Ebene,
tummelten sich die Menschenmassen und drängten zu den
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