SALVA (Sturmflut) (German Edition)
ein
Übungsobjekt. Ich biss mir vor Verzweiflung so fest auf die Unterlippe, dass
ich mein Blut schmecken konnte. Die Erinnerung an meinen Vater zerbrach langsam
in kleine Stücke und ich konnte sie einfach nicht zusammen halten. Diese
schrecklichen Bilder in meinem Kopf wurden zur grausamen Realität, aber ich
wollte sie nicht. Sie sollten verschwinden, einfach weg sein aber damit verschwand
auch ein Teil von ihm. Ich wusste nicht, was ich tun sollte und entschied
loszulassen. Er war lange tot und ich konnte mit diesem Schmerz nicht mehr
leben. Ich würde jeden Gedanken an ihn verdrängen und auch an Ihsan. Es musste
sein. Nichts durfte mich mehr schwächen. Solange ich nicht frei war, musste ich
stark bleiben. Aljoschas Worte gaben mir auch Hoffnung. Ich war nicht allein.
Es gab andere Menschen, wie mich. Leute, die bereit waren zu kämpfen. Ich
musste auch kämpfen. Ich hatte es mir geschworen.
„Ich werde kämpfen. Was immer ich tun
kann, ich werde es tun.“ Ich sah zu ihm und er grinste breit. Ich wusste nicht
genau, was mir das sagen sollte. Machte er sich lustig über mich oder sah er
sein Wissen über mich bestätigt?
„Natürlich wirst du das. Wir bauen
darauf.“ Was meinte er damit? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Ich
vermutete Ironie, obwohl ich nicht gut darin war, so etwas herauszuhören. Oder
traute er mir wirklich etwas zu? „Wie wäre es, wenn du versuchst noch ein
bisschen zu schlafen und wir reden wann anders weiter?“ Ich wollte nicht
wirklich schlafen gehen, zu groß war meine Angst, wieder diesen Traum zu haben.
Mit Aljoscha zu diskutieren, machte allerdings auch keinen Sinn, wenn er nicht
mehr reden wollte, dann würde er auch nicht mehr reden. So viel war mir
mittlerweile bewusst geworden. Ich würde ihn später nochmal danach fragen. Als
ich aufstand und den Raum verließ, nickte mir Aljoscha noch einmal zu. Kaum lag
ich wieder im Bett, spürte ich die Müdigkeit. Ich schlief ein und träumte ohne
Bilder. Da war nur die Stimme meines Vater, die immer wieder sagte: Es war
nur ein Traum, leg dich wieder hin und schlaf...
Die
nächsten Tage war ich fast ausschließlich mit Anna zusammen. Ich sah Aljoscha
nur ab und zu am Abend. Er sagte, dass er meine Abreise vorbereiten müsste. Mir
war nicht ganz klar wieso, doch ich war etwas enttäuscht, ihn so wenig zu
sehen. Ich redete mir ein, ihm nur ein gewisses Maß an Vertrauen zu schenken
und doch wollte ich in seiner Nähe sein. Diese Gefühle konnte ich nur schwer
sortieren und einordnen also beschloss ich, dass es wichtigeres gab, auf das
ich mich jetzt konzentrieren musste und schob alles, was mit Aljoscha zu tun
hatte bei Seite. Ich vermied es auch, ihn überhaupt in Gesprächen mit Anna zu
erwähnen, auch wenn es genügen Gelegenheiten gegeben hätte. Wir redeten viel
und wurden in der kurzen Zeit so etwas wie Freundinnen. Ich hatte nicht das
Gefühl, sie wirklich zu kennen und ich wollte auch nicht zu viel von mir Preis
geben, aber es fiel mir einfach leicht in ihrer Nähe zu sein. Sie hatte so ein
ruhiges und verständnisvolles Wesen. Normalerweise fand ich nicht so einfach
Kontakt zu anderen Frauen. Ich wusste nie, worüber ich mit ihnen reden sollte,
wie ich mich verhalten sollte. Mit Anna war es anders. Sie stellte keine
unangenehmen Fragen oder redete über Dinge, von denen ich nichts verstand. Die
Gesprächsthemen waren meistens sehr oberflächlich, dafür waren die
Unterhaltungen an sich entspannt. Manchmal waren wir nur zusammen in der Küche
und kochten etwas, ohne dabei zu reden. Wenn ich Fragen hatte, dann antwortete
sie darauf und wir machten zusammen kleine Übungen, damit mein Körper wieder in
Form kam. Sie gab mir auch täglich verschiedene Tabletten. Normalerweise wäre
ich misstrauisch und hätte sie nicht genommen, aber ihr zu vertrauen fiel mir
schon nach kurzer Zeit nicht mehr schwer. Sie war einfach unkompliziert und
freundlich. Mir fiel die Vorstellung schwer, dass sie wütend oder verletzend
sein konnte. Jemanden wie sie hatte ich noch nie getroffen und ich erlaubte mir
nach einer Weile, ihr ein paar private Fragen zu stellen. So erfuhr ich, aus
welcher Stadt in Russland sie stammte und das sie einige Jahre in Nordamerika
gelebt hatte. Sie erzählte sogar von ihrer Familie und ihren Freunden. Sie sparte
dabei einige Details aus, vermutlich um mir keine Eindrücke von der Welt
außerhalb von Europa aufzuzwingen. Nur warum sie diese Arbeit tat, konnte sie
mir nicht
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