SALVA (Sturmflut) (German Edition)
über die weitere Reise sprechen, war mir aber nicht
sicher, ob es eine gute Idee war hier im Zug darüber zu reden. Noch ein Grund
mehr Radu nicht zu erwähnen. Ich sagte nichts. Es verging noch eine halbe
Stunde, bis mir etwas einfiel, das ich fragen konnte.
„Wann sind wir eigentlich da?“ Er sah
auf seine Armbanduhr.
„Ungefähr in einer Stunde.“ Ich war
überrascht, über die Kürze der Reise. Ich wusste, wie schnell der Rapid fahren
konnte aber es war trotzdem schwer zu glauben. Man spürte nichts von der Fahrt.
Jetzt, in völliger Dunkelheit, merkte man kaum, dass der Zug in Bewegung war.
„Weißt du, wo wir gerade sind?“
„Nicht genau...“ Ich sah, wie er
darüber nachdachte, aber eigentlich musste ich es nicht so genau wissen.
Vielleicht war es auch besser so. Ich war jetzt schon nervlich total am Ende.
„Wie kommt es, dass du immer so gut
gelaunt bist?“ Ich sah ihn an und er wendete seinen Blick zu mir.
„Keine Ahnung. Ich bin einfach ein
positiver Mensch.“ Hatten Anna und er sich abgesprochen?
„Wie geht das? Müsstest du nicht etwas
ernster sein? Du weißt schon, wegen deines Berufs und so...“ Ich wollte nicht
zu viele Details erwähnen. Er würde mich schon verstehen. Das Gefühl der
Unsicherheit verließ mich einfach nicht. Noch immer war die Angst, da überall
und auch hier, unter Beobachtung zu stehen. Er lächelte nur sein sanftes
Lächeln und sah in die völlige Dunkelheit hinter dem Fenster. Meine nächsten
Worte kamen nicht so leicht, wie ich erwartet hatte.
„... Ich bewundere das. Nach allem was
passiert ist, habe ich Angst überhaupt nie mehr glücklich zu sein. Jetzt, wo
ich weiß, dass mein bester Freund getötet wurde, quält mich ein schlechtes
Gewissen. Wir wollten zusammen fortgehen. Jetzt habe ich die Chance und er ist
nicht mehr da. Er ist als... Gefangener gestorben.“ Die letzten Worte waren nur
noch ein Flüstern. Ich kam mir umso schlechter vor, nachdem ich die Worte
ausgesprochen hatte. Kaum hatten sie meinen Mund verlassen, wollte ich sie
wieder zurücknehmen. Ich sah Aljoscha an und suchte in seinem Ausdruck nach
etwas, was mich verurteilte, aber da war nichts. Sein Gesichtsausdruck war so
weich wie fast immer.
„Du darfst kein schlechtes Gewissen
haben. Damit würdest du dir eine Mitschuld an seinem Tod anlasten, die du nicht
hast. Du hast ihn nicht getötet.“ Er hatte Recht und es war mir auch bewusst,
trotzdem ließen mich die Bilder nicht mehr los. Ich war Zeugin seiner
Hinrichtung. Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Ich schloss sie, um die
Gefühl wegzusperren. So, wie ich es auch die letzten Tage getan hatte. „Wein
nicht.“ Ich öffnete die Augen wieder und Aljoscha hatte sich zu mir gebeugt.
Sein Gesicht war nun voller Sorge. Er berührte mein Knie mit den Fingerspitzen,
so als wollte er mir Trost spenden, mir aber auch nicht zu nahe treten. Diese
Geste von ihm wirkte ungewohnt hilflos.
„Ich weine nicht.“ Ich war aber auch
nicht bereit, darüber zu sprechen. „Du hast mir noch immer nicht auf meine
Frage geantwortet.“
„Welche Frage?“ Ich lächelte schwach
über seinen Versuch, einer Antwort aus dem Weg zu gehen.
„Warum du immer so positiv bist. Ist
das nur Fassade?“ Ich sah ihm direkt in die Augen und ließ ihn mit meinem Blick
wissen, dass er um die Antwort nicht herum kommen würde. Ich vertraute ihm, ich
wollte ihn aber auch verstehen. Was steckte dahinter? Er wartete einen Moment
und senkte dann den Blick, während er einmal lange ausatmete.
„Ich denke, man muss in der Lage sein
bestimmte Gefühle und Charaktereigenschaften zu bewahren. Man muss sie
beschützen vor äußeren Einflüssen. Negative Erlebnisse und überwältigende
Emotionen sind wie eine Krankheit, sie können dich langsam vernichten. Du
kannst nur überleben, wenn du stärker bist als der Schmerz. Und du kannst nur
frei sein, wenn du am Leben bleibst.“ Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich
verstand, was er mir sagen wollte. Er sprach von Schmerzen. Litt er unter
seiner Aufgabe? Wenn es so wäre, hätte es mich nicht überrascht. Ich brachte
kaum die Nervenstärke mit, um diese Reise einmal durchzustehen, geschweige denn
ein Dutzend Mal. Fühlte er sich gefangen in seiner Situation? So wie er von Freiheit
sprach, musste
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