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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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er sie wieder vergessen haben.
    Und irgendwann würde er auch das Gehen gelernt haben, das Gehen unter der schweißdurchtränkten Schwere des Rucksacks. Ein einziger Fehltritt, sofort begann die Bergwand zu lärmen. Für den, der in aller Diskretion einen Auftrag auszuführen hatte, absolut indiskutabel. Denk dran, nicht gegen den Berg zu steigen, sondern mit ihm, seine Kraft muß die deine werden. Nimm seinen Schwung mit. Mach immer einen Schritt mehr.
    Oder einen weniger? Wenn du müde bist, wirst du nachlässig, genau dort lauert dein Fehltritt, dein Gegner, dein Tod. Je öfter Kaufner mit sich selber sprach, desto besser lief es. Solange er mit Odina unterwegs gewesen, hatte er einfach hinterhergehen können. Nun mußte er alles selber entscheiden, selber tun. Mach deine Schritte kürzer, besser drei kleine als zwei große. Nimm jeden Schritt ernst, aber nicht zu ernst. Tritt lieber auf die Spitze eines großen Steins als in die Mitte einen kleinen flachen.
    Oder umgekehrt?
    Umgekehrt! Auch große Felsen können kippen, wenn du draufsteigst. Kaufner erinnerte sich an Odinas Esel, sie hatten die großen Felsen nicht gemocht, waren lieber außen herum gegangen, gewiß hatten sie ihre Gründe gehabt. Jetzt, da er alles selber zu tragen und jede Wegbiegung selber zu suchen hatte, vermißte er sie. Doch abgesehen davon, daß man einem Fremden wahrscheinlich gar keinen Esel anvertraut hätte, wäre er ihrem Starrsinn nicht gewachsen gewesen: Schon im letzten Sommer hatte er es aufgegeben, ihnen etwas befehlen zu wollen. Niemals wären sie mit ihm durch die Geröllfelder gegangen, wie er es tat. Aber wie dann? Manchmal ist der Umweg der Weg, such die einfachste Lösung. Und laß dich nicht ablenken, auch nicht vom Aas, das hier so auffällig oft herumliegt. In der Tiefe einer Schlucht sah er gleich mehrere Hirsche oder Bergziegen (oder was es war), offenbar abgestürzt. Sofern die Geier kurz davon abließen, sprangen die Füchse herbei, die ansonsten gierig darum herumstrichen und auf ihre nächste Chance warteten. Ein andermal sah er irgendetwas am Gegenhang, das ein Mensch hätte sein können. Die Krähen saßen jedoch so dicht darauf, daß Kaufner selbst im Zielfernrohr nichts erkennen konnte.
    Trotzdem sind die Geröllfelder schwerer zu gehen als die Schluchten. Schau sie dir in Ruhe an, bevor du den ersten Schritt setzt, lies sie, lern sie. Such die Wegmarken, such die Spuren derer, die vor dir gingen, such den Staub dort, wo er am hellsten ist, das ist der Pfad. Und wenn du nichts findest, leg deine eigene Linie über den Hang, vertrau ihm. Hier ist die Grenze fern, hier gibt es keine Minen.
    Am ersten Bach, den es zu passieren galt, verharrte Kaufner minutenlang und versuchte, sich zu erinnern. Als er schließlich hindurchging, bis auf die Unterhose entkleidet, brauchte er viel zu lange, um im schäumenden Wasser trittsicheren Grund zu ertasten. Am anderen Ufer mußte er sich die Beine reiben, bis er sie wieder spürte. Die Nächte verbrachte er wie Odina, im Schlafsack am Lagerfeuer. Mitunter bildete er sich ein, in der Ferne Wölfe zu hören.
    Daß er tagelang niemanden sah, sofern er abseits der Pfade ging, hieß nicht, daß er selbst nicht gesehen wurde – im Gegenteil. Sobald er bei einem der Bauern übernachtete, wußten sie bestens über ihn Bescheid, konnten ihm bestürzend genau schildern, wo er sich die Tage zuvor herumgetrieben hatte. Immer das gleiche Ritual: Bei seiner Ankunft wurde er feindselig beäugt, dem Dorfältesten zur Prüfung zugeführt, unter anhaltendem Mißtrauen beherbergt. Nein, keiner von den Bauern wollte das
Tal, in dem nichts ist
kennen, keiner den Weg dorthin, sofern Kaufner überhaupt fragte; keiner den
Leeren Berg
; keiner … Samarkand.
    Anfangs hatte er die Dörfer gemieden, war eher unfreiwillig hineingestolpert, so unscheinbar lagen sie in den Falten des Gebirges, meist an dessen Südabbruch zum Serafschantal. Winzige Gärten mit knorrigen Obstbäumen. Windschiefe Hütten, die Dächer grasbewachsen. Weil ihre Fels- und Lehmziegelmauern von derselben Farbe waren wie der Boden rundum, sah man die Häuser erst, wenn man fast schon davor stand. Wahrscheinlich hatten die Russen bislang kaum einen Bruchteil der Dörfer wahrgenommen, es waren die letzten Freien Festen dieses Landes, falls man sie so nennen wollte. Entsprechend unwirsch ihre Bewohner. Anfangs schwieg Kaufner entschlossen zurück, in Sorge, daß sie kurzen Prozeß mit ihm machen würden, sobald er schlief.

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