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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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Karte davon war selbst für viel Geld in Pendschikent nicht aufzutreiben gewesen, nicht mal eine von Staats wegen gefälschte – Kaufner mußte nach Gefühl gehen. Doch nach welchem Gefühl? Bald suchte er auch im Inneren der Hochebene, kreuz und quer. Für ein paar Wochen waren es lediglich lauter leere Hügel, über die er ging, waren es lauter leere Berge, die ihn umgaben. Seine Tage wurden einfach, er tat nichts als das Notwendige. Gehen und klettern. Schweigen und lauschen. Sehen und erkennen. Anfangs mit dem Zielfernrohr, immer öfter mit bloßem Auge.
    Wenn Kaufner geglaubt hatte, daß nun Gebirgseinsamkeit anbrechen würde und mit jedem Menschen, der ins Visier kam, die Stunde der Wahrheit, so hatte er sich getäuscht. Im Grunde ging es genauso weiter wie im Tal, lediglich die Stromleitungen hatte man am Zaun gekappt. Die Dörfer – ausnahmslos tadschikisch – lagen am Südhang des Turkestanrückens, dort, wo er ins Serafschantal abfiel. Auf dem Hochplateau selbst waren vereinzelt Tabak- und Kartoffelfelder, mit geschichteten Steinen und Stachelgezweig umfriedet, vornehmlich aber Herden an ziemlich zottigen Ziegen, Schafen, Rindern, Pferden, mit und ohne Hüter. Im Norden, bevor der eigentliche Kamm aufstieg, kamen die Seen, in denen das Schmelzwasser Frühjahr für Frühjahr zusammenlief, dazu Sumpf, satte Wiesen, urwaldartiges Gehölz. In den Hängen dahinter, zwischen den Furchen und Runsen der Sturzbäche, verstreut die Jurten der Kirgisen.
    Und so endlos gleichförmig gewellt, wie er beim ersten Anblick gedacht, war es auch nicht. Genau besehen war es alles andere als eine Hoch
ebene.
Zwischen den spärlich mit grünem Frühlingsflor bezogenen Buckeln – während in den Tälern längst der Sommer Einzug gehalten, konnte man froh sein, daß hier oben inzwischen der Schnee geschmolzen – gab es gewaltige Schluchten und Brüche, wie man sie nie vermutet hätte. Gab es Schäferhütten, Unterstände für Vieh, Felsinschriften (»Alle sind Brüder«, »Gott ist in dir«). Sogar einen Felsen, auf dem verschieden große Umrisse von Schuhen gemalt waren. Einen kirgisischen Friedhof mit eingebrochenen Gräbern, Yakschädeln, stoffumwickelten Steinen, der Ruine eines Lehmmausoleums. Und es gab Galgen. Wo sich verschiedene Pfade kreuzten, nicht selten deren mehrere. Offensichtlich war das Hochplateau autonomes Gebiet mit einer Gerichtsbarkeit, die mit derjenigen im Tal nichts zu tun hatte. Das Gesetz der Berge.
    Sofern man sich an die Saumpfade hielt, war man kaum einen Tag allein. Staubwolken kündigten Größeres an, Kaufner war auf jede Art von Begegnung gefaßt. Es kam darauf an, den anderen zu entdecken, bevor er es tat, und ihn innerhalb von Sekunden richtig einzuschätzen. Meist waren es nur kleine Jungs, die auf ihren Packeseln Brennholz in die Dörfer transportierten, das Gewehr lässig geschultert, eher Statussymbol, so schien es, als Waffe. Ab und zu Gruppen an Frauen, die Dornbüsche geschlagen oder die Felder gehackt hatten. Allesamt mit vermummten Gesichtern, eine Shochi wäre hier gar nicht aufgefallen. Sobald Kaufner auftauchte, drehten sie sich weg. Die wenigen Männer, denen er begegnete, hatten sich Tabakpulver unter die Zunge geschüttet, konnten oder wollten kaum seinen Gruß erwidern. Sosehr Kaufner bislang immer nach dem Woher und Wohin gefragt worden, hier kümmerte es niemanden.
    Kaufner witterte, lauschte, studierte das Alter der Kotspuren. Kontrollposten gab es keine. Dennoch hatte er manchmal das Gefühl, belauert zu werden. Dann schob er sich hinter einen Felsbrocken und wurde Landschaft, während die Adler kreisten, ein Luftzug an den Hängen hinauf- oder hinabstrich, die Farben Minute für Minute stärker ausbleichten oder, am späten Nachmittag, wieder kräftiger herauskamen. Nie wollte etwas passieren, nie. Nach ein paar Wochen trug er sein G 3 gleichfalls so lässig über der Schulter, als sei’s Teil einer Tracht.
    Es dauerte aber auch in diesem Sommer, bis er sich an die Herzlosigkeit der Berge gewöhnt hatte, an das Dröhnen der Bäche, die zu queren waren, an die Härte des Windes, der am Abend aufkam, an die Dunkelheit der Nächte. Und an die schmerzenden Zehennägel, die schmerzenden Kniekehlen, die taube Stelle über der Achillessehne (wo der Schaft des Schuhs gegen den Unterschenkel drückte, sobald es bergab ging), an die Schmerzen im Rücken, im Nacken, in jedem Knochen, jedem Muskel, jedem Gelenk. Es mußte so sein, Kaufner kannte die Stellen gut, irgendwann würde

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