Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
der Wintereinbruch die Kirgisen von ihren Sommerweiden herab- und herbeitriebe, würde es dort, wo man auf dem Hochplateau überleben konnte, eng werden. Derselbe Verteilungskampf wie im Tal. Wie in den Städten. Ob in Zentralasien, ob in Zentraleuropa. Überall wurden die Machtverhältnisse neu geklärt, entstanden »befreite Gebiete«. Immer lief es auf unterster lokaler Ebene ab, sozusagen als Nachbarschaftsstreit im Schatten der weltweiten Auseinandersetzungen – die Kriegsfürsten wußten sehr genau, wie weit sie gehen durften, ohne die Großmächte zum Eingreifen zu reizen.
War Kaufner hierhergekommen, um genau dasselbe zu erleben wie zu Hause? Es geht dich nichts an, beruhigte er sich, du hast einen Auftrag. Sobald du ihn erfüllt hast, kannst du dir wieder Gedanken machen. Was es am Lagerfeuer zu erlauschen und zu beobachten gab, war sowieso nur das laute Geprahle einer Minderheit, es hatte nichts mit dem zu tun, was Samarkand tatsächlich ausmachte. Abgesehen vom Sultan waren es nämlich die Jungs, die ganz offensichtlich das Sagen hatten, die Kinder, die gleichzeitig auf Killer, Freak, Freischärler, Hip-Hopper machten. Elternlose, Arbeitslose, Hoffnungslose aus den Tälern, gewiß. Vornehmlich jedoch Aussteiger eigener Art: Kaufner war unter die Haschischesser geraten. Mehr oder weniger ständig waren sie auf dem Trip, vom Sultan aufs freigebigste in Abhängigkeit gehalten oder vielleicht auch erst abhängig gemacht.
Die Senke, in der sie lebten, war ihnen das Paradies, und wenn man sie zum Eintreiben von Schutzgeld losschickte, zum Bestrafen, Foltern, Morden, war für sie Festtag, denn da wurden sie mit der doppelten und dreifachen Menge an Stoff versorgt. Kein Wunder, daß sie bei den Bergbauern wie bei den Kirgisen als »Verrückte« galten, nicht einmal in Samarkand selbst konnte man vernünftig mit ihnen reden, sie handelten völlig bedenkenlos. Sogar einen Imam gab es, der die Sache weltanschaulich unterfütterte; als Moschee fungierte dort, wo sich der Bach in eine Abfallhalde und dann steil bergab in eine Schlucht stürzte, der Kastenaufbau eines russischen Mannschaftstransporters (mit Einschußlöchern). Kaufner wunderte sich, wie all die Kriegstrophäen und Container überhaupt den Weg hierher hatten transportiert werden können. Andererseits wunderte er sich über gar nichts mehr.
Gegen eine Horde bekiffter Halbstarker war kein Krieg zu gewinnen, das war klar. Aber sahen so die Kämpfer der
Faust Gottes
aus? Sofern sie nicht bedröhnt auf den Teebetten lagen, mit den Ohrstöpseln ihrer mp 8 -Player auch akustisch vom restlichen Geschehen abgeschottet, vertieften sie sich in
World of Warcraft
oder andere Computerspiele, es gab einen Container, in dem man auf einem riesigen Flachbildschirm spielen konnte. An Hightech war kein Mangel, entsprechend häufig kamen Packeselkarawanen aus dem Tal, um die Generatoren mit Diesel zu versorgen.
Weil sie mit ihren iPhones nicht mehr telephonieren konnten, seit amerikanische wie russische Satelliten ihre Signale für die Krisenregion gesperrt hatten, photographierten sie sich damit umso eifriger, wetteiferten darin, sich möglichst martialisch in Positur zu werfen. Aber sie schossen auch gern in der Gegend herum, am liebsten auf bewegte Ziele. Sogar ihre Hunde lebten gefährlich. An Waffen war kein Mangel, alle wollten sie ausprobiert werden und von jedem. Es herrschte permanent gute Laune – bis tagtäglich der Punkt kam, wo sie in Gewalt umkippte. Man mußte auf der Hut sein und dennoch überall mitlachen. Die einzigen, mit denen man hätte reden können, waren die Tadschiken, die man »angeworben« hatte, hier die Arbeit zu verrichten. Doch die wollten nicht reden, wahrscheinlich durften sie nicht.
Wenn es die
Faust Gottes
ist, so sagte sich Kaufner immer wieder ungläubig, dann lebst du jetzt mitten unter ihnen, bist einer der ihnen. Ob sie wußten, mit wem sie es bei ihm zu tun hatten?
Warum er denn so viele Murmeltiere abgeschossen hätte, mokierten sie sich über ihn: Ob er nichts Besseres vor den Lauf bekommen konnte?
Sie wußten es. Hatten ihn nichtsdestoweniger wochenlang … gewähren lassen, so mußte man es wohl nennen. Waren sich ihrer Sache demnach nicht weniger sicher als der Sultan. Kaufner belauerte die Jungs, ob sie etwa zu Patrouillen aufbrachen oder davon zurückkehrten, es kamen und gingen ihrer tatsächlich jeden Tag, ob allein, ob in Trupps. Dazu kamen und gingen die Boten, die Schmuggler, sonstwer, der seine Aufwartung oder
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