Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Tag, doch immer noch derart warm und dringlich, daß er sie laut denken mußte:
Kein Mensch, kein Tier, das Gott nicht beim Schopfe hielte! Auch dich hält er fest und führt dich so lange, bis er dich erschlägt, begreif’s! Auf halber Strecke stehenbleiben kann jeder; der Weg ist nur der Weg, das Ziel ist das Ziel. Lieber vergeblich tun als gar nicht tun. Männer auf verlorenem Posten sind immer noch Männer. Je wirrer die Zeiten, desto gerader der Weg. Als ob du jemals an einen Auftrag geglaubt hättest, an einen symbolischen Sieg! Als ob du hier, in diesem wunderschönen Gebirge, je etwas anderes gesucht hättest als einen Sinn für dein ganzes mittelmäßiges Leben. Finden und zerstören. Und wenn du nicht findest, was du zerstören kannst, so kannst du immerhin die Stelle finden, an der du sterben wirst.
Erst wie er zum vierten Mal mit dem Fuß umknickte, immer mit demselben rechten, wurde ihm schwarz vor Augen, kam ihm mit dem Sturz und dem Schmerz auch das Bewußtsein wieder. Aber da war er fast schon unten, in den Fransen des Felsenteppichs, und die Murmeltiere hatten sich in Ziegen und Schafe verwandelt.
Den Rest des Nachmittags ging nichts mehr von selber, der Berg blieb stumm und abweisend. Kaufner kaute und schmeckte sich von Wegmarke zu Wegmarke, er beschleckte den Fels und legte sein Ohr daran. In seinen wachen Momenten war ihm sehr wohl klar, daß ihm die Kraft nicht mehr reichen würde, beliebig viele Umwege zu gehen. Du mußt haushalten mit deinen Schritten, flüsterte er sich zu, du hast noch Großes vor.
So ging es hinkend bergab, Serpentine um Serpentine, während sich die Welt unter ihm belebte: Hunderte an Schafen und Ziegen zogen in langgestreckten Formationen quer durch die Senke, dazu Dutzende an Kühen, ein paar Hunde, Esel, bald stand eine einzige große Staubwolke darüber, erfüllt vom Geschrei der Tiere. Je tiefer Kaufner kam, desto häufiger mischte sich das Gebrumm großer Fliegen und Bremsen darunter, die ihm arg zusetzten. Wieder einmal biß er sich in den Handballen, doch als er am Fuß der Felsklippen angekommen, lag da tatsächlich, angeschmiegt ans Gelände, das Bollwerk einer Schäferei, weitläufig umgeben von einer Mauer aus geschichtetem Gestein, darin mehrere Pferche für die Tiere. Auch sie mannshoch durch Mauern aus Felsbrocken voneinander getrennt, eine gewaltige Trutzburg.
Wären die Herden nicht gerade zurückgekehrt, Kaufner wäre an der Anlage glatt vorbeigegangen. Die Schäferhütte selbst wie eine winzige Zitadelle geduckt inmitten der Wallanlagen, auf daß sie nachts durch die Herden rundum gewärmt wurde; da und dort ein gedeckter Unterstand; ein Stall; ein einzelner knorrig kleiner Baum. Je näher man kam, desto dichter war der Hang mit Kot und Abfall besprenkelt, in einige Felsen waren Silhouetten von Tieren gemeißelt. Die Festung unterschied sich in nichts von den anderen, die Kaufner im Turkestanrücken kennengelernt. Allenfalls die Granitbrocken, aus denen sie errichtet, waren von auffällig intensiver Schwärze, wie man sie sonst nicht sah. Als Dächer waren dicke Äste eingezogen, deren Enden über die Mauern hinausragten, und mit Grassoden bedeckt. Türhoch das Feuerholz an den Außenwänden der Hütte gestapelt. Auf allen Wällen lagen Kuhfladen zum Trocknen, auf allen Dächern Eisenteile, alte Schuhe, Schüsseln (manche davon entzweigebrochen), Heu, Erde, prallgestopfte Plastiktüten.
Mittlerweile strömten die Herden in die Anlage, mehrere Kinder waren auf ernste Weise dabei, die Sache zu beaufsichtigen, damit Ziegen, Schafe, Kühe in die für sie bestimmten Steinumfriedungen gelangten. Die kleinen Kälbchen hatten ihr extra Quartier, einige Böcke desgleichen. Nur selten mußte mit einem Stein nach einer Ziege geworfen werden, die allzu weit von der Herde abgekommen, meist reichte ein Pfiff. Die Kühe gingen sowieso zielstrebig hinter ihrer Leitkuh, eine nach der anderen. Still auch die Hunde, sie sprangen bloß kurz auf Kaufner zu, um sich seiner zu vergewissern, schlugen nicht mal an.
Als Kaufner die Felsenburg erreicht hatte, herrschte Hochbetrieb. In den diversen Höfen der Umwallung dichtes Gedränge, von außen drückten stetig weitere Tiere herein, die Kälber riefen von der einen Seite der Hütte, wo man sie eingepfercht hatte, die Muttertiere von der anderen, wo sie der Reihe nach gemolken wurden. Erst wenn die Melkerin (die einzige Erwachsene, wahrscheinlich die Frau des Schäfers) mit einer Kuh fertig war, durfte ihr Kalb
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