Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
herüberwechseln, ein kleines Mädchen am Gatter wartete auf das Zeichen, um das betreffende Tier loszuschicken.
Auf diese Weise wurde es langsam ruhiger. Ähnlich verfuhr man mit den Lämmern und den Zicklein; auch hierbei überwachte das Mädchen die streng geregelte Wiederzusammenführung der Muttertiere mit ihren Jungen. Unterm Kopftuch strömten ihr dick die schwarzen Haare hervor, kaum zum Pferdeschwanz gebändigt. Sie beachtete den Fremden ebensowenig, wie es die anderen Kinder taten oder gar die Frau. Kein Gruß, kein Wort, kein Blick. Kaufner setzte sich, um alles in Ruhe zu verfolgen und auf den Schäfer zu warten. Vielmehr, um Mutter und Tochter zu beobachten, wie sie einander stumm zuarbeiteten. Immer wieder setzten sich die Fliegen gezielt in seine Augenwinkel, fette, wohlgenährte Brummer. Es war eine Plage, nebenbei war er damit beschäftigt, Erinnerungen zu verscheuchen.
Mit den letzten Nachzüglern der Herde kamen ein Esel, ein schwarzweiß gefleckter Hund, der Schäfer im knielangen Überwurf. Indem er Kaufners ansichtig wurde, legte er sogleich die Rechte aufs Herz, rief ihm den Willkommensgruß zu. Ein Tadschike, natürlich. Wie zur Bestätigung kippte er den Oberkörper vor und spuckte kräftig aus. Kaufner hatte zuviel an Felsbrocken gehabt, an Sonne, an Staub, er wäre dem Schäfer gern entgegengegangen, die Hand zu schütteln, am liebsten lang anhaltend und mit beiden Händen. Seine Knie zitterten aber noch so sehr, daß er gerade mal aufstehen konnte.
»Kommst du aus Samarkand?«
»Samarkand?« Kaufner mußte nicht lange nachdenken: »Nein, ich komme aus Samarkand.«
Der Schäfer lachte. Warum Kaufner so spät dran sei, fragte er mit gespielter Sorge (wie es schien), er habe ihn erwartet.
Kaufner hätte sich gern in den Handballen gebissen. Ohnehin sah der Schäfer einem der Alten aus dem Teehaus
Blaue Kuppeln
verblüffend ähnlich: dieselben grauweiß gemusterten Brauen, buschig über den Augen hängend, dieselben unergründlich grauen Augen, dieselben abstehenden Ohren. Seine goldenen Schneidezähne leuchteten prächtig im Abendlicht. Sogar sein grauer Umhang schimmerte so malvenviolett wie derjenige des Alten im Teehaus
Blaue Kuppeln.
Dazu der weiße Turban, aus dem das Ende des Tuchs auf die linke Schulter herabzipfelte – er konnte’s doch nie und nimmer sein? Mit einer Würde stand er da, die man in den Tälern kaum mehr kannte, ein rüstiger Greis in Gummischuhen. Sein Tadschikisch klang hart, aber gerecht. Er schien nichts als ein aufrechter Schäfer zu sein, vom Leben gegerbt, nicht jedoch gekrümmt. Auch wenn er mit seinen Bemerkungen Gelegenheit gab, weit mehr in ihm zu vermuten.
»War ich denn für heute angekündigt?«
Kaufner überlegte fieberhaft, was der Schäfer über ihn wissen konnte, ob die Abfolge ihrer Begrüßungworte gar die Parole oder nur eine weitere zufällige Merkwürdigkeit ergeben hatte.
»Na ja, angekündigt nicht direkt. Aber irgendwann kommt ihr schließlich alle hier vorbei.«
Kaufner ließ sich nichts anmerken. Daß er nicht der erste war, der es bis zur Schäferei geschafft, davon hatte er ausgehen müssen. Das Geröllfeld auf der anderen Seite des
Leeren Berges
habe ihm arg zugesetzt, erklärte er dem Schäfer, ansonsten wäre er vielleicht einen Tag früher gekommen.
Da sei doch kein Geröllfeld! versetzte der Schäfer. Außerdem sei das nicht der
Leere Berg
, sondern – er wies auf die gegenüberliegende Seite der Senke, wo jeder Hang bis in seine Furchen und Schrunden mit dem roten Licht der sinkenden Sonne ausgefüllt war – der da drüben, der hinterm See.
Kaufner schilderte das Geröllfeld vom Wunschbaum bis zum Heiligengrab am Gipfel, der Schäfer schüttelte beharrlich den Kopf: Derartige Geröllfelder kenne er zwar aus dem Pamir, aber im Turkestanrücken gebe es nirgendwo welche. Nirgendwo! Seit zwanzig Jahren sei er jeden Sommer mit seinen Herden hier oben, er kenne jeden Stein und jeden Pfad. Kaufner habe alles nur geträumt.
»Und das, hab ich das auch geträumt?« zeigte Kaufner auf sein geschwollenes Knie, »bilde ich’s mir bloß ein, daß es weh tut?«
Der Schäfer war gutmütig genug, nicht darauf einzugehen. Sein Name war Nazardod; daß sein Besucher Ali hieß, wußte er bereits. Kaufner war darüber noch nicht mal sonderlich überrascht. In den Bergen wußten sie immer Bescheid, wahrscheinlich waren die Jungs vor ihm vorbeigekommen. Ob der Schäfer mit ihnen zusammenarbeitete? Er war weniger mißtrauisch als alle, die
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