Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Frage, was man an Samarkand denn finden könne, daß man dermaßen lange bleibe, versetzte Kaufner, er genieße es einfach mal wieder, in einer Stadt ohne Ausgangssperre und nächtliche Schießereien zu leben. Und ohne Straßensperren, die gebe’s in Usbekistan wenigstens bloß außerhalb der Städte. Da lachte Shamsidin und schwieg.
Die einzigen, die in dieser Stadt redeten, jetzt fiel es Kaufner erst richtig auf, die einzigen, die in dieser Stadt laut und unmißverständlich redeten, abgesehen von den Alten, waren die Derwische.
An jedem dritten Heiligengrab der Altstadt sah man sie, im immergleichen Flickengewand, in immergleicher Verzückung, die vor Verhöhnung des Propheten, der Scharia, des gesamten verbürgten Glaubens nicht Halt machte. So trunken waren sie von Gott und der Gewißheit, er habe sich bereits gerüstet, um mit seinem Schwert die Übermütigen in die Schranken zu weisen, der Herr des Eisens, der große Rächer und Vergelter … daß man ihnen die ärgsten Pöbeleien verzieh. Die einen hielten sie für Heilige, die anderen für Verrückte.
In einem Gusar nahe dem jüdischen Viertel – neben dem Heiligengrab verfügte er über einen kleinen Rosengarten und darin eine überwucherte Sonnenuhr – kam es zu einem Zwischenfall. Der Derwisch, der dort seine Urbotschaften der Weisheit verkündet und dabei dreist eine Opiumzigarette geraucht hatte, erstarrte, als er Kaufners gewahr wurde, mitten in der Bewegung. Löste sich erst nach Sekunden aus der Verkrampfung, fuhr mit ruckartigen Bewegungen durch sein Publikum hindurch, bis er vor Kaufner zum Stillstand kam:
Das sei ein böser Mann, schrie er los und stieß Kaufner dabei seinen süßlichen Atem ins Gesicht: ein Feind der Rechtgläubigen! Er verfluche ihn, übergebe ihn hier und jetzt dem heiligen Zorn seiner Zuhörer.
Diese jedoch, anstatt auf Kaufner loszugehen, fingen an, sich gegen den Derwisch zu echauffieren. Wie er selber auf Kaufner einschlug, gingen sie dazwischen und setzten ihm übel zu; plötzlich tauchte die Polizei auf und, ohne lang nachzufragen, führte den Derwisch ab.
Nicht wenige der Zuhörer entschuldigten sich anschließend bei Kaufner, er möge bitte nicht schlecht über ihr Land denken, man sei sehr tolerant gegenüber Andersgläubigen. Die Verrückten kämen ausnahmslos aus dem Iran, das seien keine Usbeken. Sondern Fanatiker wie ihre Ajatollahs und überhaupt alle, die von dort kämen.
Nur Shochi war auf dem Heimweg ungewohnt schweigsam.
»Du bringst den Krieg zu uns, oder?« fragte sie schließlich, ohne eine Antwort zu erwarten. Kaufner hätte empört abstreiten müssen. Stattdessen blieb er stumm. Offensichtlich wußte Shochi, was er vorhatte. Und, merkwürdiger noch, half ihm trotzdem dabei. Aber sie redete ebensowenig darüber wie die anderen.
Dafür bedrängte sie Kaufner auch am nächsten Tag wieder, sobald sie gemeinsam durch die Stadt zogen: Noch nie habe sie einen Deutschen kennengelernt, ihr Bruder habe ihr erzählt, daß es bald keine mehr geben werde, warum Kaufner nichts erzähle? Von seiner Heimat, da sei doch schon so lange Krieg.
Heimat? Das Wort hatte Kaufner in den letzten Jahren nur noch von Fundamentalisten, gleich welcher Provenienz, gehört. Aber was hätte er Shochi davon erzählen sollen? Daß man sich an den Krieg gewöhnen und ganz gut mit ihm arrangieren konnte, jedenfalls wenn man sich an die Spielregeln hielt? In Samarkand war in diesem Frühjahr noch alles friedlich, abgesehen von den Prügeleien, die sich usbekische und tadschikische Banden nachts lieferten; gewiß stellte sich Shochi den Krieg so vor, wie er in den Computerspielen ihres Bruders stattfand, mit großen Entscheidungsschlachten und dem Abwurf von N - oder sogar ZZ -Bomben.
Auch bei uns hat es mit Straßenkampf begonnen, wollte er anheben; aber dann erzählte er ihr, wie es für ihn selber begonnen hatte: mit einem Schlauchboot, in dem er nachts über die Grenze nach Polen rübergemacht. Mit der Botschaft der Bundesrepublik in Warschau. Mit Tagen des Zagens und Hoffens, endlich mit der Ausreise dorthin, wo der Freie Westen begann und all das andere, für das manch einer damals, im Osten, sein Leben gelassen hatte. Mit der innerdeutschen Grenze, die er ein paar Tage zuvor noch selber bewacht, und wie sie kurz darauf geöffnet wurde und die neue Zeit anbrach.
Shochi verstand das nicht auf Anhieb. Hatte ihr Großvater nicht erzählt, Deutschland
sei
die DDR ? Wie konnte man von dort nach Deutschland fliehen? Für ihr
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