Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
paramilitärischen Verbände der Russen, im Westen (einschließlich Westberlin) die Deutschländer mit den Resten der offiziellen Ordnungsmacht. Demarkationslinien und grüne Grenzen verliefen jeden Tag etwas anders, je nachdem, was die Nacht zuvor für die eine oder andere Seite erbracht hatte. Wie hatte es denn geschehen können, daß ehemalige Minderheiten jetzt im ganzen Land das Sagen hatten, wieso hielt sich die schweigende Mehrheit weiterhin aus allem heraus? Erste Erhebung der
Deutschnationalen
in beiden Sektoren, Ausrufung »autonomer Schutzgebiete«, aus denen später vor allem im russisch besetzten Osten »Freie Festen« wurden. Weltanschauliche Spaltung mitten durch alle Bevölkerungsschichten hindurch, die staatlichen Aktivitäten entsprechend gelähmt. Verteidigung des Rechtsstaats im Wesentlichen durch Deutschländer, die inzwischen hier ihre Heimat sahen und auch bereit waren, nachts dafür ihr Leben zu riskieren. Erst zwei Jahre lag das zurück, gleichwohl schien es schon eine Ewigkeit her. Als ob der Krieg nur jeden Tag eine hastige Gegenwart zugelassen und jeden Gedanken an das Vergangene abgeschnitten hatte. Nun fiel es Kaufner schwer, sich zu erinnern, schwerer noch, die Erinnerungsbruchstücke für Shochi zusammenzufassen. Es war doch viel verwickelter gewesen, verworrener, verwirrender? Oder viel einfacher?
Mittlerweile durchstreiften sie die monotone Weitläufigkeit der äußersten Bezirke Samarkands. Kaufner konnte den Charme des Sowjetkommunismus, der hier ungebrochen weiterexistierte, als hätte Usbekistan nie eine Unabhängigkeit errungen, sogar versuchsweise genießen. Auf den schäbigen Grünflächen und Spielplätzen zwischen den Plattenbauten grasten Kühe. Überall Betonpoller, Sichtschutzwände, hinter denen ganze Wohnviertel verschwanden. Das Schönste war der Himmel, nach einem Regensturz ganz klar und hellblau, mit kleinen weißen Kumuluswolken darin, in sämtlichen Richtungen standen plötzlich Bergketten am Horizont. Schon am nächsten Tag hing der Himmel wieder in stumpfem Hellgrau, und wenn Wind aufkam, sah man den Staub, der hier alles beherrschte. Wie oft man sich in dieser Stadt den Hals freihusten mußte! Nun?
Die Gräber, die Shochi am Stadtrand wußte, waren kaum mehr als schäbige Ruinen, für Kaufners Recherchen vollkommen belanglos. Meist wurde er von den Einheimischen beargwöhnt, wenn er, ein Fremder, an solch entlegenen Orten auftauchte, aber weil er’s an der Seite Shochis tat, vertrat ihm niemand den Weg. Sogar diejenigen, die sich in den halbwegs intakten Gräbern eine Bleibe eingerichtet hatten, Bettler, Drogenabhängige, Taschen- und Tagediebe aller Art, räumten, ohne zu murren, ihr Lager, sobald sie der beiden auch nur gewahr wurden, und es war gewiß nicht Kaufner, dem sie derart Respekt zollten. Er selbst hätte es ja in solchen Situationen, da Shochi ganz ernst und leise wurde, hätte es nicht mehr gewagt, ihr zu widersprechen oder gar die gemeinsamen Erkundungen abzubrechen. Ihr seltsamer Aufzug allein konnte es nicht sein, der die Menschen vor ihr zurückweichen ließ. Sie wußte, was sie in ihrer stillen Bestimmtheit tat, das sah Kaufner genauso klar wie all die anderen, auch wenn sie sich die übrige Zeit wie eine ganz normale Dreizehnjährige verhielt, ein bißchen albern, launisch, übermütig, kokett. In jedem Fall war er gut beraten, ihr zu folgen. Vielleicht war er an ihrer Seite längst auf der Spur zur Spur, wer weiß, und begriff es bloß nicht.
Und er mußte erzählen, so war es ausgemacht. Nun! Als es zu ersten Bibelschändungen gekommen war, ohne daß die Sicherheitskräfte dagegen vorgingen, waren die Rußlanddeutschen zur Selbstjustiz geschritten. Nacht für Nacht sickerten sie in den deutschländischen Sektor und seine Enklaven ein, schossen auf jeden, der sich zeigte. Mitunter regelrechte Hetzjagden. Gefangene machten sie keine. Weil sie im Zeichen des Kreuzes kämpften, zahlreich Zulauf von Rechtsradikalen, desgleichen von Arbeitslosen und all jenen, die auch mal auf der Gewinnerseite stehen wollten. Die Gegenseite tat sich deutlich schwerer, im Namen der Toleranz ließ sich keine überzeugende Verteidigungsstragie aufbauen. Beschwörungsappelle der Politiker. Schweigen der Intellektuellen. Polizei und Armee nach ihren ethnischen Wurzeln zerfallen, ganze Kompanien liefen zur großrussischen Seite über. Ausgerechnet Bundeskanzler Yalçin, mit dessen Wahl alles angefangen und auf dessen Rücktritt alles zielte, was von
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