Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Alter stellte sie ungewöhnlich kluge Fragen, sie erstaunte Kaufner immer wieder.
Deutschland, das sei doch auch im Osten der Westen? Oder welcher Westen sei gemeint?
Kaufner hustete sich den Staub aus dem Hals, sie hatte ja recht. Wenn man von Skandinavien und den Inseln absah, dann war der Westen in der Mitte Europas wirklich nur mehr schwer zu lokalisieren. Und Shochi blieb hartnäckig. Sie einigten sich schließlich darauf, daß Kaufner davon erzählen würde, wann immer sie ihm ein neues Grab in Samarkand gezeigt hatte.
Wie der Krieg »und all das« in Deutschland überhaupt losgegangen sei?
Noch in der Wahlnacht war es losgegangen, das stand fest, selbst wenn sich Kaufner, wie er jetzt merkte, nicht mehr so genau an Einzelheiten erinnerte. Die
Nationale Einheitsfront
und die rußlanddeutsche
Wahrheit
, natürlich auch die
Partei der Bibelfesten
, die
Freistaatlichen
und wie sie alle hießen, deren Anhänger sich da blitzschnell zusammenrotteten, sie hatten einen Bundeskanzler Yalçin nicht hinnehmen wollen. Schon während des Wahlkampfs hatten es ihre Schlägertrupps jedem klargemacht, der es hören oder fühlen wollte. Aber wer war dann wann zuerst wo einmarschiert? Da es bislang immer bloß Milizen gewesen waren, ließ sich das schwer entscheiden. Und wieso war es fast gleichzeitig zu Ausschreitungen in anderen Ländern gekommen? Vor allem in den Südstaaten der EU , überall nach demselben Muster, als hätten Millionen von Schläfern nur auf das Zeichen gewartet, das sie in Marsch setzte: von der Stiefelspitze Italiens aus, den Klein- und Kleinststaaten des Balkans, der Iberischen Halbinsel, und immer nach Norden, in die Mitte Europas. Waren das überhaupt noch Anhänger irgendwelcher Parteien gewesen, Mitglieder irgendwelcher Gruppierungen? Oder vielmehr die versammelten Verdammten der Zeitläufte, die sich nun überall »gegen das System« erhoben, wie man es bei
Radio Freies Europa
hörte? Ein Volks- und Völkeraufstand, der sich rasend schnell zur Völkerwanderung entwickelt hatte. Oder war doch alles nur geschickt von Großrußland angezettelt worden?
Kompliziert. Und von Tag zu Tag war es komplizierter geworden. Kaufner hatte sich nie sonderlich für Politik interessiert, im Grunde war er allein deshalb, weil Kathrins beste Freundin in Wandsbek wohnte, an die Freie Feste und letztlich hierher geraten. Aber das half ihm bei Shochi nicht weiter, überall in der Stadt wußte sie Gräber.
Gleich hinterm Timur-Denkmal, wo mit dem Universitet Boulevard die russische Neustadt anfing, zeigte sie ihm – nein, zunächst mal das Photostudio, vor dem eine weiße Stretchlimousine parkte. An ihrem Hochzeitstag werde auch sie hier Station machen, eine Hochzeitskappe mit goldenen Schnüren habe sie bereits in ihrer Aussteuer. In der Allee dann jede Menge händchenhaltender Männer, Minirockmädchen mit rotgefärbten Haaren, schüchterne Blicke. Weiter westlich eine Brauerei, rundherum Bierlokale. Rohbauten, in denen die Schwarzgeldhändler standen und mit Geldbündeln winkten. Nun?
»Aber da war ja noch kein einziges Grab dabei!«
»Ach, Ali, sei doch nicht so.«
Also gut. Sie würde es sowieso nicht verstehen. Die ersten Wochen danach – Eskalation der Randale zu Schießereien, Aufteilung der Stadtbezirke in »befreite« und von der Gegenpartei »besetzte Zonen«. Zunächst auf die Brennpunkte der Großstädte konzentriert, seltsam friedlich das Leben bereits in den unmittelbar benachbarten Vierteln, als ob man dort den Beschwichtigungen aus den Medien tatsächlich noch auf den Leim ging. Dabei hatten die Deutschländer im Verein mit der Linken längst Zulauf von sonstwo, keineswegs nur aus der Türkei, während die Rußlanddeutschen Verstärkung aus sämtlichen slawischen Ländern organisierten. Wie es genau abgelaufen war, wer wollte das wissen? Kaufner hatte dieses und jenes von diesem und jenem erfahren, eine in sich stimmige Geschichte ließ sich darüber nicht erzählen.
Nach der Russenstadt kam das iranische, angrenzend das armenische Viertel. Trostlos eingestaubte Straßenzüge, von kleinen Kartoffel- und Kräuterbeeten gesäumt. Die Reichen hatten übermannshohe Mauern um ihre Grundstücke gezogen, mit Glasscherben gespickt, manchmal fiel ein blühender Rosenstrauch darüber. Eine Gedenktafel für die Gefallenen des Großen Vaterländischen Krieges. Nun?
»Aber das ist doch kein Grab!«
Na gut. Bald war Deutschland wieder geteilt gewesen wie zu Kaufners Schulzeit, im Osten die
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