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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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gearbeitet hatte. Hundert Prozent.
    Den stillen Schrei jedoch, den er am Ende seines Lebens ausgestoßen, den bekam Kaufner nicht aus dem Ohr heraus. Vornehmlich nachts, aus dunklen Träumen hochschreckend, hörte er ihn. Schon im letzten Jahr hatte er immer häufiger auf Russisch geträumt, jetzt träumte er mitunter in Shochis Kauderwelsch, in das sich auch ein paar Brocken Kirgisisch eingefügt hatten, die er von Odina gelernt.
    Du verdankst ihm dein Leben. Gewiß kein Freund, aber ein Gefährte, das war er. Wie hattest du ihn je zum Teufel jagen wollen!
    Nebenbei registrierte er die Schüsse, mittlerweile klang es, als ob man bereits in der Russenstadt kämpfte. Dank der Soldaten an den Toren und, vor allem, der tadschikischen Bürgerwehren war man in der Altstadt gleichwohl verhältnismäßig unbesorgt. Noch war keine offizielle Ausgangssperre über Samarkand oder andere Städte verhängt worden, der Präsident hatte lediglich eine Empfehlung ausgesprochen. Ohnehin sei das usbekische Familienleben ein kostbares nationales Erbe, das Abend für Abend gepflegt werden sollte. Nebenbei hatte er die Einberufung der Reservisten verkündet, bald würde er den Ausnahmezustand über das Land verhängen. Dazu hätte Kaufner eigentlich nicht aus Hamburg kommen müssen.
    Tagsüber war es besser. Ein bitterkalter Dezember, minus zweiundzwanzig Grad am Morgen. Von einem Tag auf den anderen war das Hamam wieder geöffnet, wenngleich darinnen dann von den avisierten Reparaturen nichts zu bemerken war. Wann immer Kaufner Talib den Weg zu verstellen suchte, schob ihn der von sich fort, keine Zeit, so viel Kundschaft, so viele Massagen, Kaufner sehe ja selbst. Dennoch ging Kaufner an Männerbadetagen regelmäßig hin, blieb, solang es ging, in einer der Schwitzkammern, vielleicht ließ sich dort noch etwas über Odina in Erfahrung bringen. Allerdings mußte er den Weg dorthin öfters neu lernen, frisch hochgezogene Mauern versperrten mittlerweile nicht nur die Durchgangsstraßen, sondern auch die eine oder andere Gasse; die bekannten Orientierungspunkte – mannshoch abgesägter Baum, giftgrün gestrichenes Haus, violettes Tor, Hauswand mit eingelegtem Judenstern – halfen nicht mehr weiter oder waren verschwunden.
    Schneller erreichte man das Hamam, wenn man die Altstadt bis zum Bazar umging und dann von der anderen Seite betrat. Dabei kam man unweigerlich an einem der Agitatoren vorbei, die – je weiter man sich vom Stadtzentrum entfernte, desto offener – gegen den Nachbarstaat hetzten: Da werde zensiert, gefoltert, vergewaltigt, vertrieben, in Lagern gefangengehalten, systematisch niedergemetzelt. Gegen die Tadschiken im eigenen Land hielt man sich noch zurück. Nun ja, hüben wie drüben seien Tadschiken nichts anderes als Kirgisen, die sich für Perser hielten. Gelächter. Und ihrerseits Usbeken für Türken hielten, die sich für Mongolen hielten. Gelächter, in Unmutsbezeugungen übergehend. Meist wurde die tadschikische Flagge verbrannt, mitunter auch eine italienische, weil sie ähnlich rot-weiß-grüne Streifen hatte.
    Agitatoren bald an jeder größeren Straßenecke. Obwohl sie erst verhalten Beifall fanden, wurden es ihrer von Woche zu Woche mehr. Anders als bei den Derwischen schritt die Polizei nicht ein; ob die Regierung dahintersteckte? In der Russenstadt traten indessen Redner auf den Plan, die offen gegen die Regierung wetterten. Im Rohbau, den die Schwarzgeldhändler mit ihren Schreibtischen und Geldzählmaschinen auf sämtlichen Stockwerken besetzt hielten, forderte man ganz unverblümt die Abkehr vom Westen und Heimkehr in die Föderation. Nach dem Sieg Rußlands in Alaska hatte man den Rubel zur neuen Leitwährung gemacht, sogar Polizisten schleppten plastiktütenweise usbekische Som an, um mit dem Anstieg der Preise Schritt zu halten. In den Büros der Händler sammelten sich Tag für Tag Millionen, in Stapeln verschnürt auf dem Fußboden lagernd wie Altpapier. Dennoch sah man niemanden, der eine Waffe trug, es wurde nie turbulent und unübersichtlich.
    Was die Menschen wirklich dachten, hörte man eher in den Teehäusern, den kleinen Schaschlikrestaurants, an den Straßenecken der Brot- und denen der Somsa-Verkäufer. Sie warteten auf den Krieg. Und redeten auch plötzlich darüber. Jeden Tag fragten sie einander aufs neue, warum es nicht längst losging. Mal waren die Grenzen geschlossen, mal waren sie da oder dort offen, mal waren die Armeen beidseits davon in Stellung gegangen, mal kam es vereinzelt

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