Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
reichte. Als Getränk wurde heißes Leitungswasser serviert; nach dem Marmeladenbrot kam das kalte Fleisch. Dazu das Ticken der Wanduhr, die Geräusche der Ziegen und Hühner im Hof, das heftige Schmatzen des Hausherrn. Er war froh, daß die Russen inzwischen für Ruhe und Ordnung gesorgt hatten, wenigstens in etwa; noch vor wenigen Wochen seien Geschäfte geplündert und regelrechte Treibjagden abgehalten worden. Dabei sei der Islam eine Religion des Friedens, wer einen Glaubensbruder töte, komme in die Hölle. Die schlimmsten seien die von der
Faust Gottes
, sie hetzten die Usbeken gegen die Tadschiken auf und die Tadschiken gegen die Usbeken. Aber nun hätten die Russen – Gott schenke ihnen allen ein langes Leben! – ja einen Zaun gezogen, nun könne keiner mehr nachts aus den Bergdörfern herunterkommen.
Zaun?
Guter Zaun, wichtiger Zaun! Drüben, am andern Ufer, der Turkestanrücken sei bereits abgesperrt. Hoffentlich demnächst hier auch das Serafschangebirge, dann wäre vielleicht endlich Ruhe.
Der Hausherr sprach so sorgsam gewählt, als stünde alles, was er zu sagen hatte, in Anführungszeichen, als distanziere er sich im selben Moment vom Gesagten, er war die Inkarnation der Uneigentlichkeit. Wahrscheinlich weil er Angst hatte, das Eigentliche zu verraten. Womöglich war er Usbeke, der nach wie vor versuchte, außerhalb eines usbekischen Wohnviertels zu überleben, weil er sein Hotel nicht aufgeben wollte.
Welcher Zaun?
Guter Zaun, wichtiger Zaun! Für den Geschmack des Hausherrn hätte er direkt am gegenüberliegenden Flußufer gezogen werden dürfen. Sehr seltsame Dörfer gebe es da drüben, je höher gelegen, desto seltsamer. Seit Jahrhunderten autark, keiner Regierung untertan, von Verrückten aller Art besiedelt. Aber auch schon in der Ebene, auf der
anderen
Seite des Flusses wohlgemerkt, wo die usbekischen und die türkischen Dörfer lägen! Die hätten gemeinsame Sache gegen die Tadschiken gemacht; dabei wären sie einander bis vor wenigen Monaten spinnefeind gewesen. Ohne Türken wären die Usbeken hier längst restlos ausgerottet, versicherte er; die Türken seien schwer bewaffnet, sie hätten sogar Artillerie.
Wenigstens gab es am Abend noch ein Gewitter, wahrscheinlich hatte einer der Derwische mit seinem Regenstein gezaubert. Nachts wurde Kaufner durch Gerumpel und Geschrei in nächster Nähe geweckt, herrisch im Befehlston herausgebellte Silben, aufjammerndes Zetern. Er lugte durch die Vorhänge, sah im Plattenbau gegenüber mehrere Menschen auf einem der Balkons. Ein Mann versuchte, sich halbwegs aufrecht auf der Brüstung zu halten, einem schmalen Eisengeländer. Als er mit leiser Stimme zu flehen anhob, begriff Kaufner. Die anderen Männer lachten entsprechend. Schließlich ließen sie ihn vom Geländer herunter, er sank vor ihnen auf die Knie, dankte. Es war erschütternd und ekelhaft zugleich. Kurz drauf hörte man einen Panzer durch die Nacht fahren, danach war’s still.
Was Kaufner schon auf seinem Weg nach Pendschikent zugute gekommen, war ihm innerhalb der Stadt erst recht von Nutzen: Er kannte sich leidlich aus. Sogar auf der anderen Seite des Flusses, auch wenn jetzt jeder so tat, als beginne dort eine verbotene, zumindest verfluchte Zone, von wilden Ungeheuern besiedelt und … Türken. Um sie in Augenschein zu nehmen und den ominösen Zaun, der von den Russen errichtet worden, ging Kaufner zum Friedhof; er wußte, daß er von dort den besten Blick über den Fluß hatte und seine Ruhe obendrein.
Vor dem Haus, von dessen oberstem Balkon sie gestern um ein Haar jemand in den Tod geschubst hätten, saß ein Liebespaar, unter einem Regenschirm den Blicken entzogen, obwohl es gar nicht regnete. Ein Bild der Zärtlichkeit inmitten herrschender Gewalt, so kannte es Kaufner aus Hamburg, so kannte er’s aus Samarkand. Wahrscheinlich herrschte überall auf der Welt und immer gleichzeitig Krieg
und
Frieden. Kaufner blieb eine Weile stehen und überlegte, ob er die nächtliche Szene nur geträumt hatte, bis ihn einer in die Seite stieß, er solle besser weitergehen.
Der Friedhof ein ähnlich verwunschner Ort wie der in Samarkand, hinterm Haupteingang die Gräber der letzten Jahrzehnte mit ihren protzigen Marmorsteinen und Plastikrosen, zum Fluß hin zügig verwildernd. Bald nur mehr verfallene Pavillons, aufgeworfene Erdhaufen, mit spitzen weißen Steinen markiert, verstreut in einer hügeligen Landschaft, die am Ende zum Serafschan hin abfiel. Anstelle der Wege bloße
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