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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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rüber nach Polen, selber ein Republikflüchtling. Pardon, Kaufner, so müssen wir es wohl nennen. Nicht daß wir Sie kritisieren wollen, aus heutiger Sicht haben Sie vollkommen korrekt gehandelt. Aus damaliger Sicht allerdings nicht. Sie hatten den Befehl, und kaum kommt es darauf an, verweigern Sie ihn. Als Soldat und Diener eines Gemeinwesens haben Sie versagt, Kaufner, ja, Sie haben sich strafbar gemacht. Erzählen Sie uns nicht, Sie hätten aus moralischen Gründen nicht geschossen. Sie konnten es schlichtweg nicht!
    Damit hatten sie ihn. Sie hätten gar nicht von Pflicht und Schuld gegenüber dem Vaterland sprechen müssen (obgleich das eine Vaterland im anderen aufgegangen sei, Kaufner habe ihm gegenüber noch etwas gutzumachen). Derart in die Enge gedrängt, wollte er es mit einem Male selber, irgendetwas in ihm gierte danach, die Scharte endlich auszuwetzen, oder warum sonst nahm er den Auftrag so schnell an? Weil er ohnehin niemanden mehr hatte, der zu Hause auf ihn wartete? Weil die alte Welt aus den Fugen geraten und er der einzige war, der das begriffen hatte? Der verhindern mußte, um jeden Preis verhindern mußte, daß eine neue Welt entstand, in der es keinen Platz mehr für seinesgleichen gab? Weil … ach, weil all das stimmte und insbesondere alles zusammen stimmte und weil … ach, weil er annahm.
    »Wir sind überzeugt, daß Sie für die richtige Sache sehr wohl auch schießen können«, gaben sie sich da plötzlich versöhnlich. »Und vielleicht wollen Sie uns nebenbei ja beweisen, daß Sie ein ganzer Kerl sind?«
    Noch immer schüttelte Kaufner den Kopf darüber, wie gut sie »über einen dunklen Punkt in Ihrer Vergangenheit« Bescheid gewußt hatten, »der natürlich im Grunde ein leuchtend strahlender ist«. Als ob das geheime Wissen der DDR komplett vom Geheimdienst der Bundesrepublik übernommen und von dort bis an die Freien Festen weiterverschachert worden. Oh, Kaufner
konnte
vernichten, und er
würde
vernichten. Pardon, Morgenthaler, so werden Sie es dann wohl nennen müssen.
    Wenigstens war der Zaun am Fuß des Turkestanrückens leichter zu überwinden als die damalige Republikgrenze, schon allein der Bestechlichkeit seiner Bewacher wegen. Dazu mußte er freilich ein bißchen mehr über das andere Ufer in Erfahrung bringen. Und damit würde er jetzt bei den Totengräbern anfangen.
    Auf seinem Weg zurück in die Stadt sprach er mit dem Zuckerwasserverkäufer an der Brücke, dem Betreiber eines Internetcafés (er saß ganz allein zwischen seinen Computern und spielte
World of Warcraft
), der Verkäuferin in einem Hochzeitsteddygeschäft, ein paar in der Stadt verbliebenen sowjetrussischen Säufern und dem einen oder anderen Zigeuner, der seine Frau beim Betteln beaufsichtigte. Als er am Eingang zum Bazar vorbeikam, entdeckte er die Wanderderwische wieder, sie hatten sich seitlich davon gelagert, der Gotteslästerung frönend. Nebenbei beleidigte einer der ihren die Zuschauer:
    »Ich bin die Strafe Gottes. Hättet ihr nicht so schwer gesündigt, Gott hätte mich nicht zu eurer Züchtigung gesandt!«
    Er suchte nach Freiwilligen, die sich von ihm auspeitschen lassen wollten, fand aber keine. Er solle endlich ein Wunder wirken, drohten ihm die Schaulustigen, ein Feuer auf seiner Haut entzünden, Blut aus dem Nichts hervorzaubern oder wenigstens für jeden eine ordentliche Mahlzeit, sie hätten Hunger! Gottesfrevel allein mache nur Haschischesser wie ihn und seinesgleichen satt. Der Derwisch, verzückt von Erkenntnis, wollte sich davon nicht beeindrucken lassen:
    »Hinweg mit dem Kehricht eures Geschwätzes, hinweg vom Pfad zum Glaubenskern, ihr kleingläubigen Kastraten des Geistes und der Hose! Gnade überkommt Gott angesichts meiner, meiner, meiner!« An dieser Stelle seiner Offenbarungen wurde er von mehreren gepackt, gezerrt, mit Hieben versehen: »Er schenkt mir Kenntnis von dem, was … ohne Anfang ewig ist, er läßt mich teilhaben am Einen … indem ich meine Ichheit abstreife …«
    Seine Worte gingen im Wutgebrüll der Zuschauer unter. Auch die anderen Derwische wurden verprügelt, bis der Jeep kam, um über Lautsprecher den Beginn der Ausgangssperre anzusagen. Nachdem Kaufner ins Hotel zurückgerannt war, konnte er sich ein recht genaues Bild von dem machen, was in Pendschikent und am anderen Flußufer seit letztem Herbst vorgefallen war und was ihn demnächst dort erwartete:
    Mit Talkshows und Demonstrationen hatte sich hier keiner aufgehalten, die jeweiligen Minderheiten waren

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