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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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gezielt umgebracht worden. Wer überlebt hatte, der tat es längst im richtigen, in »seinem« Viertel. Jenseits der Hauptstraßen war die Stadt entsprechend parzelliert; da es keine Vorkehrungen seitens der Obrigkeiten gegeben hatte wie in Samarkand, da die Behörden also umgehend jede Kontrolle über das Geschehen an den Mob verloren hatten, war das Chaos weit größer. Selbst jetzt noch, die russischen Besatzer hatten ja kein Interesse am Frieden. Tagsüber konnte man es auf den ersten Blick für quirlig orientalisch halten, in Wirklichkeit brodelte es immer knapp unterm Siedepunkt, konnte die Gewalt in jedem Moment und beim geringsten Anlaß hochkochen. Hamburger Zustände.
    Am anderen Ufer des Serafschan war die Entscheidung längst gefallen. Die tadschikischen Dörfer, die es dort gegeben hatte, waren ausnahmslos niedergebrannt, es gab nur mehr türkische und usbekische Siedlungen. Das Prinzip des modernen Krieges: Entmischung dessen, was der Frieden vermischt hatte. Auch in den Städten würde es am Ende darauf hinauslaufen, aber das war noch eine Weile hin und konnte Kaufner egal sein.
    Das andere Ufer. Am Zaun herrschten die Russen; in den Dörfern, nein, schon auf den Nebenstraßen, im Grunde bereits dort, wo man von der Hauptstraße abbog, herrschte … dieser dort, jener da (alle gehörten sie jedoch dem
Bund vom Schwarzen Hammel
an), in den Bergen dahinter die
Faust Gottes.
    Und wo man sich eine Waffe besorgen konnte, wußte Kaufner am Abend ebenfalls. Nachts wurde er durch schrille Fanfaren geweckt, rhythmisches Klatschen, Gelächter. Er lugte durch die Vorhänge, die Balkons im Plattenbau gegenüber waren voll feiernder Menschen. Zwei Männer hielten ihre trompetenhaften Tröten gen Himmel, die Rohre waren an die zwei, drei Meter lang, und bliesen, was das Zeug hielt. Ein Halbstarker schlug dazu die Doira. Ab und zu drängte sich eine alte Frau zu ihnen, legte Tücher über die Tröten und übergab Geschenke, auf daß sie wenigstens für kurze Zeit verstummten. Als den Nachbarn das Neugeborene gezeigt wurde, begriff Kaufner. Es war beruhigend und hoffnungslos zugleich. Erst spät hörte man den Panzer durch die Nacht fahren, danach war’s endlich still.

    Schon vor dem Bazar begann der Markt. Einer verkaufte aus dem Kofferraum seines Pkws heraus Torten, ein anderer komplette Rinderbeine, von hinten sah sein nackter Schädel aus, als habe er drei Wirbel. Hatte ihn Kaufner nicht schon mal gesehen? Er war früh aufgestanden, vielleicht träumte er noch? Beidseits des Haupteingangs schliefen die Derwische, der eine oder andre hockte mißmutig verkatert dazwischen. Im Bazar selbst dichtes Gedränge; während die Geschäfte draußen ausgebrannt oder leer waren, herrschte hier der reinste Überfluß. Doch keiner der Händler pries seine Waren an. Es dauerte eine Weile, bis Kaufner begriff, daß sogar Deoroller und Tütensuppen nicht mehr in Som, sondern in Rubel ausgezeichnet und für die allermeisten unbezahlbar waren. Die Menschen standen vor den Auslagen, verschlangen Erdbeeren, weiß kandierte Erdnüsse, getrocknete Melonenschnitze, bepuderte Aprikosenkerne und all das andere, was im Jahr zuvor noch ganz selbstverständlich zu ihrem Alltag dazugehört, mit den Augen und malmten dazu mit dem Kiefer.
    Der Bazar erschien Kaufner weit größer als im letzten Herbst, immer wieder mündeten seine Gassen in neue Gassen, stieß man auf Schaschlikbrater, alte Frauen, die Sonnenblumenkerne feilboten, kleine Jungs, die Tabletts mit Tee austrugen, Tagelöhner, die hoch beladene Karren durchs Gewühl zogen, herumtorkelnde Betrunkene: ein Labyrinth, doch ohne jedwede Freude, jedweden Trubel, vielleicht der Soldaten wegen, die auch hier Posten bezogen hatten. Überall Aushänge, das Betteln sei bei Androhung der Kreuzigung verboten; diejenigen, die tatsächlich noch einkauften, waren wahrscheinlich im Auftrag der Armee oder irgendwelcher Milizen unterwegs, womöglich wurde von hier aus das gesamte Serafschantal beliefert, bis hoch in die –
    Hör auf, dir darüber Gedanken zu machen! Es geht dich nichts an. Halt lieber die Augen offen, morgen willst du los, du hast etwas zu erledigen. Bloß wo? Die Stände einer jeden Ladenzeile mit dem immergleich bunten Sortiment, Sicheln-Fahrradschläuche-Kernseife, bis eine neue Ladenzeile querte, Hochzeitsmäntel-Thermoskannen-Autofelgen. Endlich fand Kaufner die Gasse der chinesischen Plastikhalbschuhe, die man ihm genannt, an den Eckpfosten der Stände waren Rinderhälften

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