Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Trampelpfade durch hüfthohes Gras, beständig von einem süßlichen Fäkalien- und Verwesungsgeruch umgeben, da und dort ein Rascheln im Verborgenen.
Kaufner setzte sich unter einen der steinernen Baldachine, vormals schattenspendender Eingang zu einer Gruft, direkt am Steilabfall zum Fluß. Kein Mensch weit und breit, ab und an ein leichter Luftzug, tiefster Frieden. Am gegenüberliegenden Ufer das Schwemmland diverser Zuflüsse, darin umherstolzierend schwarze und weiße Störche. Ohne Baum oder Busch dahinter aufragend der nackte Bergrücken mit seinen Rissen, Kerben und Schrunden, vom Staub milde verschleiert. Hinterm Kamm zog sich bis zu den eigentlichen Gipfeln erst noch endlos ein Hochplateau hin, man konnte es nicht sehen, nur wissen.
Im Fernglas erkannte man die Details – verbrannte Felder und Bauernhöfe, Brachen. Da und dort olivgrüne Lkws, offensichtlich russische Mannschaftswagen, ansonsten bloß Reiter, wahrscheinlich war das Benzin für Zivilisten rationiert. Ein nahezu schnurgerader Strich am Fuß des Gebirges: der Zaun. Dahinter ein weiterer Zaun, beide mit Stacheldraht gesichert. Aber keine Wachtürme, so schnell konnten sie dann doch nicht bauen.
Seinen Weg nach Pendschikent hatte Kaufner möglichst weit südlich des Flusses gesucht, deshalb hatte er die Anlage nicht gesehen. Sie erinnerte ihn an die Bilder, die er von früheren Grenzsicherungen der Sowjetunion kannte, einer dieser Doppelzäune stand nach wie vor im Osten Tadschikistans, das wußte er, und sicherte die Grenze zu China. Kaum waren die Russen wieder im Lande, bauten sie im Westen weiter. Das Konzept war immer dasselbe. Ihre Zäune standen kilometerweit vor der Grenze, noch in der Ebene, wo man sie gut kontrollieren konnte, meist mit Gräben zusätzlich gesichert, nachts mit einer flutlichtartigen Beleuchtung.
Der Zaun am Fuß des Turkestanrückens erinnerte Kaufner aber vor allem an … seine Zeit als Wehrpflichtiger bei der NVA und an die Grenze, die er damals zu bewachen hatte. Eine weit perfekter organisierte Grenze als die, die nun vor ihm lag, solide Metallgitterzäune mit Signaldrähten unter Schwachstrom, mit Minen, Lichtsperren, davorliegenden Kontrollstreifen aus fein geharktem Sand, von den Beobachtungstürmen und Hundestaffeln ganz zu schweigen. Er als einfacher Soldat bald jeden Tag im Einsatz, ab April ’ 89 als Gefreiter, wenige Wochen später schon als Postenführer. Mit besten Referenzen, ein guter Schütze, guter Kamerad, regelmäßig auf Streife am antifaschistischen Schutzwall. Besondere Vorfälle gab es keine, tief unten in Thüringen, Grenzregiment 10 »Ernst Grube« in Plauen, weit weg von zu Hause. Es hatte alles ganz gut ausgesehen, Kaufner hätte nach seiner Entlassung sogar einen Studienplatz bekommen. Bis er in einer lauen Septembernacht tatenlos gebannt zusah, wie einer mit Leiter und Steigeisen Republikflucht beging.
Von wegen Schießbefehl. Kaufner hatte sich seit Jahrzehnten verboten, darüber nachzudenken. Doch nun, da er auf dem Friedhof von Pendschikent saß und einen halben Tag lang nach drüben sah, dorthin, wo der Zaun der Russen und irgendwo dahinter das Mausoleum war und das
Tal, in dem nichts ist
, kam die Erinnerung einigermaßen herb zurück. »Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten«, hatte es in der täglichen Vergatterung vor Dienstantritt geheißen. Aber er hatte nicht vernichten können, wie gelähmt war er gestanden, nicht mal einen Warnschuß hatte er abgegeben, nicht mal einen Warnruf. Der Kamerad, mit dem er diese Nacht auf Streife gegangen, der schon. Vielleicht hatte man den Vorfall deshalb nicht vollständig ins Protokoll genommen, nämlich hinsichtlich Kaufners Verhalten, der Flüchtling war ja angeschossen, womöglich sogar vernichtet worden, bei seiner Festnahme hatte er noch gelebt. Der diensthabende Offizier hatte Kaufner keine einzige Frage gestellt, als er ihn am Morgen in die Kaserne entlassen konnte, und anstelle eines Grußes schweigend den Kopf geschüttelt. Kaufner war bei seinen Vorgesetzten beliebt gewesen, bestimmt hatte ihn das vor unmittelbaren Konsequenzen gerettet.
Höchst seltsam freilich, daß die von der Freien Feste Wandsbek, Jahrzehnte später, alles über den Vorfall in Erfahrung gebracht hatten. Um ihm genüßlich zu referieren, wie er beim ersten verlängerten Kurzurlaub, Mitte September, nicht nur nach Heringsdorf gefahren war zu seinen Eltern, sondern gleich weiter über die Oder-Neiße-Friedensgrenze, wie sie damals hieß,
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