Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
hatte verloren geben müssen, so konnte er sein Gesicht wahren. Zum Abschied gab er seinem Kunden ungebeten einen Rat mit auf den Weg: Falls Kaufner tatsächlich ins Gebirge wolle, um Heroin zu schmuggeln … Einem bartlosen Mann wie ihm werde überall mißtraut, in den Bergen aber zuvörderst.
Wo man sich in letzter Zeit besondere Verdienste um die Bewachung des Zauns erworben hatte, wußte Kaufner jetzt auch. Am Haupttor des Bazars waren die Derwische mittlerweile aufgewacht und trieben ihr Unwesen, schäumend und zitternd, mit zuckenden Köpfen und Gliedern, bei all ihren ekstatischen Verrenkungen jedoch vor allem jeden, der vorbeiwollte, aggressiv anbettelnd. Einer wälzte sich entrückt am Boden, ein anderer verkündete Heilsbotschaften vom Urgrund des Seienden. Einige Schriftgelehrte standen abseits und wagten nicht, die Stimme dagegen zu erheben; das Volk starrte mit unverhohlenem Haß. Selbst in Tadschikistan galten Derwische nach wie vor als unantastbar, jeder gläubige Muslim war angehalten, ihnen Almosen zu geben. Doch wer war in diesem Land noch gläubig, wer unantastbar? Die Stimmung war wesentlich aggressiver als am Vortag, die Derwische würden heute
zumindest
verprügelt werden, wenn nicht verjagt, in siedendes Wasser geworfen, gekreuzigt.
Kurz vor Anbruch der Ausgangssperre wurde das G 3 ins Hotel geliefert, Kaufner zerlegte es in seinem Zimmer, ölte alle Teile mit Sorgfalt ein. Zur Dämmerung zogen rosa Wolken auf, die Tauben gurrten. Nachts blieben die Balkons auf der anderen Straßenseite leer, es war so ruhig und friedlich, daß man ganz leis MG -Salven aus der Ferne hörte.
Nach drüben gab es nur eine einzige Fahrt am Morgen und eine am späten Nachmittag. Einzige Haltestelle in Pendschikent war direkt an der einzigen Brücke, dort, wo Friedhof und Zigeunerviertel aneinanderstießen. Schon kurz nach Ende der Ausgangssperre war Kaufner vor Ort, im Rucksack das zerlegte Gewehr. Für Mai war es überraschend kühl, einundzwanzig Grad; außer ihm waren lediglich Zigeuner auf der Straße, die Frauen beteten, die Männer rauchten. Erst auf den zweiten Blick sah man, daß es in ihrem Viertel brannte, immer wieder hörte man es krachen, knacken, knallen. Die Plünderer, die gerade unterwegs waren, zerstörten anscheinend mehr, als daß sie tatsächlich plünderten, es gab wohl nichts mehr, was sich zu rauben lohnte.
Als sie, ein kleiner Trupp bewaffneter Kinder, schließlich auf die Straße und davonrannten, sahen sie so abgerissen, ausgehungert und elend aus wie die Zigeuner, die nicht mal protestierten, klagten, nach Hilfe riefen (die sie sowieso von niemandem erhalten hätten). Kaufner wunderte sich, wie beiläufig derlei immer geschah; als das Schanzenviertel in Hamburg gebrannt hatte, war wenige Straßenzüge daneben das normale Alltagsleben weitergegangen, als ob nichts gewesen wäre.
Dann kam der Zuckerwasserverkäufer mit seinem kleinen Tankwagen. Noch immer war der Tag nicht richtig angebrochen, gleichwohl wurde es mit einem Mal voll auf der Brücke. Ausschließlich Männer, sogar Polizisten und Soldaten, die sich an der Brüstung drängten. Unten am Ufer war der Mob zugange, anscheinend hatte man die Derwische im Schlaf überrascht und scheuchte sie nun die Böschung herunter. Die Derwische hatten den Ernst der Lage noch nicht erkannt oder waren betrunken, sie krakeelten so frech wie immer.
Indem man den ersten die Hände auf die Bretter nagelte, die man mitgebracht hatte, klangen ihre Schreie fast lustvoll. Paarweise stieß man sie ins Wasser; da sie aber sofort hinfielen, mußte man sie weit in den Serafschan hineintragen, bis sie von der Strömung erfaßt wurden. Einige zeterten jetzt und fluchten, andere strudelten willenlos davon, wieder andere kämpften heftig, um über Wasser zu bleiben.
»Mit dem Strom schwimmt sich’s am besten!« riefen ihnen die Mörder hinterher, von der Brücke winkte man ihnen zum Abschied zu. Die Derwische inzwischen allesamt im Wasser und auf letzter großer Fahrt. An der Grenze würde usbekisches Militär das Feuer auf jene eröffnen, die bis dahin überlebt hatten. Es schien Kaufner ohnehin nur die Hälfte derer zu sein, die er während der letzten Tage in der Stadt erlebt hatte, ein gutes Dutzend, der Rest hatte anscheinend schon sein Leben gelassen oder war entkommen.
»Haltet ihr mich für geringer als den Propheten, so verkennt ihr meinen Rang!« Indem man die gottestrunkenen Reden der Derwische nachäffte, machte sich auf der Brücke die
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