Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
allgemeine Empörung Luft: »Nichts ist auf der Welt und geschieht auf ihr, das
nicht
das Lob des Göttlichen singt!«
Dabei wechselte man auf die andere Brückenseite, um das Spektakel stromabwärts so lang wie möglich verfolgen zu können. Fast hätte Kaufner bei all dem frühmorgendlichen Trubel die Marschrutka versäumt, die in seinem Rücken vorgefahren war. Ein Barkas-Kleinbus, wie er ihn in seiner Jugend als Polizeiwagen kennengelernt hatte; er war bereits überfüllt, als er zustieg. Ausschließlich Frauen. Der Fahrer stand vor der Kühlerhaube und warf den Motor erneut mit der Kurbel an.
Die Fahrt ging nach Roj, obwohl es das Dorf – ehemals rein tadschikisch – gar nicht mehr gab, bloß noch das benachbarte Turkıroj. Ein altes Schmugglerdorf, »halb usbekisch, halb türkisch, das sich sein Geschäft nicht von einem russischen Zaun verderben läßt«, wie man es Kaufner gegenüber ausgedrückt hatte. Der Fahrer weigerte sich, den Abstecher nach Turkıroj zu fahren, er setzte Kaufner einige Kilometer entfernt auf freier Strecke ab.
Nur wenige Äcker waren noch bewirtschaftet, ein paar Tomaten hier, ein paar Gurken dort, die Reisfelder ebenso zerstört wie die meisten Bewässerungskanäle. Dazwischen ein Fußballfeld, die Seitenlinien durch Autoreifen markiert, die man zur Hälfte eingegraben hatte. Darauf ein angepflocktes Schaf. Strom- oder Telephonmasten an den Hängen, die Leitungen führten über den Zaun der Russen hinweg und den nackten Berg hinauf. Das gegenüberliegende Ufer mit Pendschikent und der Silhouette des Serafschangebirges im Dunst, ein stechender Geruch in der Luft, Schritt für Schritt wurde er stechender. Ein Mann ritt auf einem Esel vorbei, beidseits bepackt, ein Anblick wie zu biblischen Zeiten, allerdings hantierte er dabei mit seinem mp 8 -Player.
Auf halber Strecke nach Turkıroj wurde der Gestank unerträglich. Etwas abseits vom Weg tauchten die Ruinen einiger Bauernhäuser auf. Zwischen ihnen und dem Weg hüfthoch ein Haufen, der sich beim Näherkommen als Schädelpyramide entpuppte. Sie war so aufgeschichtet, daß die Gesichter der Toten, jedenfalls das, was davon übrig, diejenigen anstarrten, die vorüberkamen. Kaufner biß sich in den Handballen, aber er träumte gewiß nicht mehr. Ein Zeichen der
Faust Gottes
?
Am Ortseingang von Turkıroj saß eine Greisin, vor sich ausgebreitet Melonen und Kräutermilch in großen Colaflaschen. Indem Kaufner näher kam, hob sie eine Hand zum Schutz vor ihr Gesicht und wandte sich ab. Zwischen den Häusern überall Barrikaden, doch niemand, der darauf Wache schob. Eine leere Straße, daran aufgereiht ein mit Brettern vernageltes Geschäft, ein mit Brettern vernageltes Restaurant, ein Barbier. Auf den Balkons Sandsäcke, auf den Dächern Sandsäcke, usbekische und türkische Flagge. Kaufner rief auf Usbekisch, keine Antwort.
Die Tür zur Hütte des Barbiers war angelehnt, drinnen eng an eng überraschend viele Männer. Kaufner legte die Hand aufs Herz und nickte in die Runde, keiner rührte sich oder sagte ein Wort. Schließlich trat der Barbier auf ihn zu, ein Mann mit Vollbart und der grünen Mütze der Strenggläubigen, er heiße Gul, womit er dienen könne. Kaufner sagte, daß er Alexander heiße, Gul dürfe Ali sagen, und daß er eine Rasur wünsche. Gul sah ihn sehr ernst an, schließlich hatte sich Kaufner bereits heute morgen im Hotel rasiert.
Derjenige, der gerade von Gul traktiert worden, mußte den Sitz räumen, eine Hälfte des Gesichts rasiert, die andere eingeschäumt. Gul schüttete kochend heißes Wasser auf ein Tuch, wrang das Tuch aus und preßte es auf Kaufners Gesicht. Sodann tauchte er das Rasiermesser in Alkohol, zündete es an, ließ es ausglühen. Noch immer sagte keiner der Männer ein Wort. Beim Einseifen rollte Gul die Pinselspitze vorsichtig über Kaufners Oberlippe, zog ihm dabei die Nasenspitze mit der anderen Hand leicht nach oben. Beim Rasieren drückte er das Gesichtsfleisch mit zwei Fingern zu Wülsten, die er dann abschabte, oder er zog die Haut auseinander, bis sie spannte. Als er Kaufner für die zweite Rasur einseifte, klingelte ein Handy; während das Telephonat geführt wurde, begann wenigstens ein Getuschel in Kaufners Rücken. Auf Usbekisch.
Nachdem Gul einige Punkte auf der Stirn, der Schädeldecke, den Schläfen massiert hatte, nahm er Kaufners Kopf mit beiden Händen in eine Art Druckstock, bis er ächzte. Anschließend verpaßte er ihm eine rasche Serie an Handkantenschlägen in den
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