Samstags, wenn Krieg ist
Wand schräg. Poster an den Wänden. Jon Bon Jovi. Axl Rose. Jason Priestley. Tom Cruise. Peter Pan. Auf dem Boden liegt ein Jeansrock. Ein Schlüpfer. Ein BH baumelt an der Schreibtischstuhllehne. Vera Bilewski sieht einen linken Schuh, aber keinen rechten.
Auf dem ungemachten Bett ein Riesenteddy. Auf dem Schreibtisch buntes Briefpapier und ein nicht zusammengeschraubter Füller. Das Papier halb beschrieben. Daneben ein Lexikon. Englisch-Deutsch/Deutsch-Englisch.
Mit der Neugierde einer ermittelnden Kommissarin tritt Vera Bilewski ins Zimmer, geht gleich zum Schreibtisch durch und sieht sich den Brief an.
In dem Moment fegt Frau Schmidtmüller ins Zimmer. „Sie dürfen sich hier nicht umgucken, Frau Kommissarin. Sie wissen ja, wie junge Mädchen sind.“
Sie hebt den Schlüpfer auf, weiß so schnell nicht wohin damit und steckt ihn ein. Die Unordnung ist wohl noch schlimmer, als sie befürchtet hatte. Sie sieht ihren Mann an. Der sagt nichts. Sie glaubt, dass er denkt: Warum hat sie nicht rasch hier saubergemacht? Wie stehen wir jetzt da? Sie wusste doch, dass die Polizei kommen würde.
In Wirklichkeit denkt er: Als ob das jetzt noch wichtig wäre. Lass doch. Es ist egal geworden. Alles ist egal geworden.
Doch sie sieht in seinem Ausdruck einen Vorwurf. Sie hat mal wieder versagt. Ihr Leben scheint eine Kette solcher vertaner Chancen zu sein. Im entscheidenden Moment macht sie immer alles falsch, das ist es, was er von mir denkt. Seit Jahren. Seit Johannes’ Unfall läuft alles schief. Siggi hat sich mit diesen komischen Typen eingelassen. Das geht auch nicht gut. Später sind dann die Eltern schuld. Am Ende liegt immer alles an den Eltern. Besonders an den Müttern. Die Kinder dürfen machen, was sie wollen. Wir sind schuld, weil wir sie großgezogen haben. Sie wissen das. Also denken sie, sie dürften alles. Je mehr Mist sie bauen, um so schlechter stehen wir da, die Eltern. Das ist ungerecht. Einfach ungerecht. Wir hatten auch Eltern. Wir sind auch nicht als Erwachsene geboren worden. Wen interessiert das?
Und jetzt ist auch noch Renate tot.
Sie weiß nicht, wie lange sie schon so gedankenversunken da steht. War sie nur eine Viertelsekunde lang weg oder ein paar Minuten?
Vera Bilewski hat den Brief gelesen und legt ihn zurück. Vermutlich wertlos. Sie teilt einer Brieffreundin in London mit, wer ihr Lieblingssänger ist.
Frau Schmidtmüller wiederholt ihre Bitte. „Gucken Sie sich hier bloß nicht um.“
So sachlich wie möglich antwortet Vera Bilewski: „Genau das ist aber meine Aufgabe.“
Frau Schmidtmüller schaut, als würde sie aus einem Traum erwachen. „Ja. Entschuldigen Sie.“
„Ich muss Ihnen leider ein paar Fragen stellen, wenn Sie glauben, dass Sie schon in der Lage sind, sie zu beantworten.“
„Ja, sind wir“, antwortet Josef Schmidtmüller für seine Frau. „Sind wir.“
„Was ist jetzt?“, ruft Siggi von unten hoch. „Gehen wir zu Renate oder nicht?“
Sofort füllen sich Elke Schmidtmüllers Augen wieder mit Wasser.
Vera Bilewski ahnt es schon, wenn sie jetzt mit den Eltern der Toten die Treppe hinunter ins Wohnzimmer geht, wird Siggi unten stehen und ihr auf die Beine starren. Aber kann man einen jungen Mann zurechtweisen, der gerade seine Schwester verloren hat?
30
Yogis Unruhe legt sich nicht. Petra Freitag beobachtet ihn. Sie gibt ihm heute mehr Zuwendung, mehr von ihrer Zeit, als sie eigentlich hat. Andere kommen dafür zu kurz.
An Arbeit ist heute bei Yogi gar nicht zu denken. Er, der eigentlich sauber ist und zu den „leichten Fällen“ gehört, hat sich heute schon zweimal eingekotet. Jetzt trägt er eine Windel und viel zu weite blaue Hosen.
Er, der Liebling des Pflegepersonals, weil er so gern lacht, „unser Sonnenschein“ genannt, lässt heute keinen an sich heran. Er haut und tritt. Erich, einen Epileptiker, der eigentlich sein Freund ist, hat er gerade ins Ohr gebissen.
Petra registriert, dass Yogi nur auf Männer aggressiv reagiert. Sie schiebt ein Papier über den Tisch und sagt: „Malst du mir wieder ein Bild, Johannes?“
Er reagiert nicht.
„Bitte.“
Er nimmt das Blatt. Sie hofft, ihm so aus dem Zustand heraushelfen zu können. Wenn er nicht bald ruhig wird, muss er Tabletten bekommen.
Sie selbst ist eine erklärte Gegnerin von Psychopharmaka. Aber sie hat oft gesehen, wie kritischen Patienten damit durch eine Krise geholfen wurde. Trotzdem lehnt sie Chemie ab, weil sie glaubt, dass der Mensch nicht von Chemie zusammengehalten wird,
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