Samuel Carver 01 - Target
mit ihr machen würde, wenn er ihm die Gelegenheit dazu gab. Vielleicht würde es noch dazu kommen. Als Kursk vor dem Luxuschalet vorfuhr – auf der Auffahrt, die für Wagen der Spitzenklasse gedacht war, wirkte der Swisscom-Van lächerlich deplatziert –, hatte Juri Schukowski noch nicht entschieden, was mit seiner schönen Ausreißerin geschehen sollte.
»Aleksandra, welche Freude, dich zu sehen«, sagte er, als sie in sein Arbeitszimmer gebracht wurde. Sie war schmutzig, erschöpft und kaum imstande zu laufen. »Ich habe mich schon gefragt, wann wir uns wiedersehen würden. Du scheinst müde zu sein. Setz dich.« Er blickte zu dem Butler, der am anderen Ende des Zimmers wartete. »Bringen Sie etwas zu essen und zu trinken.« Dann verlegte er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau in der schmutzigen Bluse und dem zerrissenen Rock, die sich mit gesenktem Blick eine Beule am Hinterkopf rieb.
»Nun, Aleksandra, sag mir, was du vorhattest. Erzähl mir alles.«
Schukowskis Ton hätte nicht charmanter, seine Besorgnis nicht aufrichtiger klingen können. Doch die Drohung hinter den freundlichen Worten war unmissverständlich wie eine blanke Klinge.
DIENSTAG, 2. SEPTEMBER
56
Carver verbrachte die letzten Nachtstunden in einem Novotel bei Mâcon hundertdreißig Kilometer hinter der französischen Grenze. Er war ausschließlich über Nebenstraßen gefahren, um Mautstationen und Überwachungssysteme zu meiden. Unterwegs hatte er überlegt, was er als Nächstes tun sollte. Je mehr Zeit verging, desto heikler wurde Aliks’ Lage. Was Kursk betraf, so hatte sie ihn verraten. Sein Boss würde das sicherlich auch so sehen. Je länger sie in deren Gewalt blieb, desto weiter konnten sie sie wegbringen und desto mehr würden sie ihr antun.
Doch er konnte es sich nicht leisten, dumme Risiken einzugehen. Wenn er an Aliks herankommen wollte, würde er London heil erreichen müssen, um Malgrave zu stellen und die Männer hinter der Pariser Verschwörung aufzudecken. Doch es sah ganz danach aus, als wären die russische Mafia und der britische Geheimdienst gemeinsam hinter ihm her. Seine Beschreibung dürfte inzwischen auf allen Flughäfen, Bahnhöfen und Hafenanlagen bekannt sein. Wenn man ihn unterwegs schnappte, würde er Aliks nicht wiedersehen.
Carver erwachte um halb acht und rief Bobby Faulkner an. In London war es eine Stunde früher, aber er hatte noch niemanden mit kleinen Kindern gekannt, der viel länger als bis Sonnenaufgang schlief. Sein Freund meldete sich mit einem schläfrigen: »Äh, hallo?«
Carver kam sofort zur Sache. »Ist deine Leitung sicher?«
Faulkner kicherte müde. »Morgen, Pablo. Zwei Anrufe in drei Tagen, das ist eine Ehre. Was meinst du damit, ob meine Leitung sicher ist?«
»Bist du verwanzt, angezapft oder wirst sonstwie überwacht?«
»Ich bin jetzt Immobilienmakler, Pablo. Das würdest du wissen, wenn du Kontakt halten würdest. Also, wenn die Konkurrenz nicht herausfinden möchte, ob irgendwelche geschmackvollen Drei-Zimmer-Wohnungen mit geringem Renovierungsbedarf auf den Markt kommen, nein, dann bin ich nicht verwanzt. Warum fragst du?«
»Du musst mir einen Gefallen tun, einen Riesengefallen. Du weißt schon, einen unter Regimentskameraden.«
»Du meinst einen, den ich um all der Jahre willen für dich tun muss, wo wir Seite an Seite gekämpft und uns gegenseitig den Arsch gerettet haben?«
»Ja, genau.«
»Du hast vielleicht Nerven! Aber so warst du ja schon immer. Sag mir, was ich tun soll. Ich werde mir einen starken Kaffee kochen und versuchen, wach zu werden.«
Carver hörte seine schlurfenden Schritte und das Klappern von Geschirr auf einer marmornen Arbeitsplatte. »Gut«, sagte er. »Hast du noch das Boot?«
»Jaaa«, antwortete Faulkner vorsichtig.
»Wo liegt es?«
»In Poole, genau wie früher. Und es heißt ›sie‹, nicht ›es‹, das solltest du wissen. Komm, Pablo, worum geht es überhaupt?«
»Ich muss den Kanal überqueren und will nicht durch irgendwelche Abfertigungen, Zoll- oder Passkontrollen. Ich kann also nur hinübersegeln. Und du bist der Einzige, den ich kenne, der eine Zehn-Meter-Jacht besitzt. Du musst kommen und mich abholen. Wenn du von Poole kommst, wird Cherbourg das Beste sein.«
Er hörte einen langen Seufzer am anderen Ende der Leitung. »Mal sehen, ob ich richtig verstanden habe: Du willst, dass ich allein eine Segeltour von mindestens – wie viel? – neun Stunden mache, sofern Wind und Gezeiten für mich sind, ich soll dich in
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