Samuel Carver 02 - Survivor
Ende des Ganges Schritte zu hören. Sehr langsam zog er die Tür ein Stückchen weiter auf, gerade so viel, dass er einen Blick hinauswerfen konnte. Er sah einen Mann, der sich über den Schreibtisch der Nachtschwester beugte und den Finger über das oberste Blatt eines Klemmbretts wandern ließ. Er las die Zimmerliste mit den Namen der Patienten.
Vielleicht meinte der Mann einen anderen, aber Carver wollte kein Risiko eingehen. Er schloss die Tür und sah sich im Zimmer um. Innerhalb weniger Sekunden traf er seine Entscheidung. Dann ging er ins Bad, schaltete das Licht ein und drehte den Wasserhahn so weit auf, dass es sich anhörte, als ob ein Mann pinkelte. Er ging wieder hinaus, ließ aber das Licht brennen und die Tür halb offen, bevor er sich zwischen Bad und Flur mit dem Rücken an die Wand stellte.
Die Schritte kamen den Gang entlang. Die Gummisohlen des Mannes quietschten auf dem PVC-Boden. Vor Carvers Zimmer machten sie Halt, und die Türklinke bewegte sich. Die Tür wurde aufgedrückt. Sie war jetzt genau zwischen Carver und dem Fremden, sodass einer den anderen nicht sehen konnten.
Am Haken an der Innenseite hing sein Morgenmantel. Vorsichtig zog Carver den Gürtel aus den Schlaufen und legte ihn zu einer Schlinge. Er wusste, er hatte nur geringe Kraftreserven und wenig Ausdauer. Egal, was er tat, er musste es schnell tun.
Der Fremde schloss die Tür hinter sich. Sein Blick war auf das Bad gerichtet. Carver bemerkte er nicht. Er hielt etwas in der rechten Hand, eine dünnes Rohr, das ein kleines Stück aus seiner Faust hervorragte. Beim ersten Hinsehen hielt Carver es für eine Taschenlampe, aber dann bewegte sich der Mann, und das Licht aus dem Bad fiel darauf. Der Mann hielt einen Injektionsstift, wie er von Diabetikern für die tägliche Dosis Insulin benutzt wurde.
Jetzt war die Sache klar. Eine Überdosis Insulin löste bei einem schlafenden Patienten sofort einen hypoglykämischen Schock aus, das den Neuronen im Gehirn Glukose vorenthalten wurde. Wenn man nicht sofort etwas unternahm, starb der Patient, und wenn die Injektionsstelle nicht entdeckt wurde, gab es keinen Grund, eine Straftat zu vermuten. Insulin war eine der effektivsten Mordwaffen, die ein Krankenhaus zu bieten hatte.
Carver hatte nicht die Absicht, das neueste Opfer zu werden. Er trat hinter den Eindringling, legte ihm die Schlinge um den Hals und zog zu.
Der Mann reagierte sofort. Er griff mit der Linken an den Hals, um den Gürtel wegzuzerren, gleichzeitig stieß er mit dem Kopf nach hinten, um den Angreifer im Gesicht zu treffen.
Carver sah die Bewegung voraus und wich zurück, wodurch sich sein Zug der Schlinge verstärkte. Doch jetzt hatte er ein anderes Problem, denn der Fremde fuhr mit dem rechten Arm nach hinten und stach mit dem Insulinstift nach ihm wie eine Giftschlange.
Carver drehte sich zur Seite, um dem Stift auszuweichen. Dadurch änderte sich sein Gleichgewicht, und das verschaffte dem Gegner die Möglichkeit, ihn zurückzustoßen. Carver prallte gegen die Wand zum Nachbarzimmer. Das raubte ihm den Atem, doch er zwang sich, den Gürtel festzuhalten. Zehn bis fünfzehn Sekunden Druck auf die Halsschlagader reichten aus, um jemanden bewusstlos zu machen, aber fünfzehn Sekunden waren eine Ewigkeit, wenn zwei Männer um ihr Leben kämpften.
Sie torkelten durch das Zimmer wie ein betrunkenes Tanzpaar, stießen gegen einen Stuhl, sodass er umfiel, gegen das Bett, gegen einen Beistelltisch, von dem ein Glas mit Wasser hinunterfiel, und immer wieder stach der Insulinstift nach Carver, suchte nach einer Stelle seines Körpers und nach dem richtigen Augenblick, um seine tödliche Ladung zu entleeren.
Von den Patienten in den Nachbarzimmern wurden allmählich schlaftrunkene Beschwerden laut. Einer fing an, gegen die Wand zu klopfen, und rief nach der Schwester. Es würde nicht lange dauern, bis jemand käme, um zu sehen, was los war.
Während die Sekunden verstrichen, wurde der Kampf zu einem Ausdauertest für Carvers geschwächte Muskeln und für das nach Sauerstoff verlangende Gehirn seines Gegners. Wer als Erster aufgab, würde sterben. Und dann hatte Carver Glück. Der Mörder schlug mit dem Handrücken gegen die eiserne Bettkante und ließ den Insulinstift fallen. Er versuchte alles, um sich danach zu bücken, doch das gab Carver Gelegenheit, sich fester hinzustellen und der Schlinge einen letzten Ruck zu geben.
Er spürte, wie der Fremde das Bewusstsein verlor, und ließ ihn auf den Boden sinken, indem er
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