Samuel Carver 02 - Survivor
den Gürtel durch die Hände gleiten ließ.
Plötzlich hämmerte jemand an die Tür.
Carver zog den Bewusstlosen ins Bad, dann öffnete er. Christoph, der cracksüchtige Sohn eines prominenten Bankers stand in Shorts und einem alten T-Shirt auf dem Korridor, seine sonst bleichen Gesichtszüge waren feuerrot vor Entrüstung.
»Was machst du denn?«, jammerte er und gab sich keine Mühe, leise zu sein.
Schon streckten andere den Kopf aus ihrer Tür.
»Ist ja gut, tut mir leid«, sagte Carver und hielt beschwichtigend die Hände hoch, während er nach rechts und links sah.
»Ich muss geschlafwandelt sein. Ich hatte wieder einen Albtraum, dann bin ich aufgewacht und lag mitten im Zimmer, und alles war umgeschmissen. Ich weiß nicht, wie das passiert ist. Aber es tut mir ehrlich leid, dass ich euch alle geweckt habe, in Ordnung?«
In gespielter Verwirrung blickte er von einem zum andern. »Hat jemand die Schwester gesehen? Ich könnte eine Tablette gebrauchen …«
Die anderen zogen sich kopfschüttelnd in ihre Zimmer zurück wie Krabben in ihre Löcher und wollten ihre Ruhe haben. Als Carver sie nacheinander verschwinden sah, ging auch er in sein Zimmer zurück. Wo immer die Schwester hingegangen war, sie musste jeden Moment zurückkommen. Aus dem Bad hörte er ein Stöhnen. Sein Mörder kam zu sich.
Carver spähte hastig umher, bis er den Insulinstift neben seinem Bett fand. Er hob ihn auf, ging ins Bad und setzte sich rittlings auf den Mann, drückte mit einer Hand dessen Kopf auf den Boden und stach ihm mit dem Injektionsgerät in die Halsschlagader. Als die Plastikkanüle die Haut durchdrang, drückte er auf den Knopf und sandte eine Dosis Insulin in den Blutkreislauf. Dann drückte er noch zweimal, nur um sicherzugehen, dass er dem Mann die höchstmögliche Dosis verabreicht hatte und das Gerät leer war. Der Mann gab ein leises Stöhnen von sich. Er lebte noch. Aber er eilte seinem Tod entgegen.
Jetzt, wo der erste Kampf vorbei war und das Adrenalin wegsackte, fühlte sich Carver wie zerschlagen, aber er konnte es sich nicht leisten, nachzulassen. Er stellte den Nachttisch wieder auf und den Stuhl an seinen Platz. Irgendwo fand er noch die Kraft, den Bewusstlosen aus dem Bad zum Bett zu ziehen.
Der Mann hatte einen schweren Mantel an. Carver zog die Arme aus den Ärmeln, dann hievte er ihn auf die Matratze und deckte ihn mit Laken und Überwurf zu, sodass nur noch der Kopf auf dem Kissen zu sehen war. Diese List würde aber nur funktionieren, wenn jemand nicht mehr als einen oberflächlichen Blick durch den Türspalt warf. Aber das mochte Carver die nötige Zeit verschaffen, um abzuhauen.
Er zog Hemd, Hose und Schuhe an, darüber den Mantel des Sterbenden. In der Seitentasche steckten Autoschlüssel und ein Handy. In der Innentasche war die Brieftasche. Carver klappte sie auf. Er fand Geld, Kreditkarten und einen Ausweis auf den Namen Dr. Jean Du Cann, Facharzt für Psychiatrie. Damit war der Mörder am Pförtner vorbeigekommen. Er musste ihn auch an der Rezeption vorgezeigt haben, wenn er nicht einen Lieferanteneingang benutzt hatte. Diese Ausgänge waren durchweg verschlossen, stellten aber für einen Profi kein Hindernis dar. Sie würden auch Carver nicht daran hindern, hinauszugelangen.
Er wollte gerade das Zimmer verlassen, als er wieder Schritte hörte. Sie hatten den energischeren Klang der Schwester. Sandrine war zurück. Die Geräusche, die sie machte, folgten einem bestimmten Muster: ein paar Schritte, dann eine Pause, wenn sie durch das Türfenster zu einem Patienten hineinsah, was sie routinemäßig tat, um zu sehen, ob alle wohlauf waren.
Carver rollte sich unters Bett, als ihre Schritte näher kamen. Er hielt die Luft an, solange sie vor seiner Tür anhielt, und atmete erleichtert aus, als sie weiterging. Ein paar Minuten später hörte er eine letzte kurze Unterbrechung ihres Rundgangs, gefolgt von dem Ton des eingeschalteten Fernsehers. Er wartete ein Weilchen, um der Schwester Zeit zu lassen, sich eine Tasse Kaffee einzugießen, die Schuhe auszuziehen und es sich vor dem Kasten bequem zu machen.
Die Zeit nutzte er, um die Habseligkeiten des Sterbenden durchzusehen. Carver behielt den Mantel, das Handy, die Autoschlüssel und das Bargeld. Die Brieftasche mit dem Personalausweis des Doktors legte er zusammen mit dem Insulinstift auf den Nachttisch. Das war eine Menge Material für die Polizei, wenn sie zu rekonstruieren versuchte, was passiert war – Material, das deutlich zeigte,
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