Samuel Carver 02 - Survivor
einschließt, das als Menschenrechtsverletzung angesehen werden kann und das in einem anderen Zusammenhang auf Folter hinausläuft. Dabei geht es nicht bloß um körperliche Abhärtung. Es gibt auch ein psychisches, fast sogar spirituelles Element: Schmerzen und Erschöpfung zu akzeptieren und – weil man Versagen und Aufgeben jeder Zeit zulassen kann – sich zu entscheiden, sie zu einem Teil seines Lebens zu machen. Es ist genau diese Gabe zur Selbstkasteiung oder vielleicht diese Versessenheit, die einen guten Marathonläufer oder einen Weltklasseboxer ausmacht. Carver hatte Schmerzen. Er wollte aufhören. Und doch beschloss er, weiterzuschaufeln.
Larsson jedoch stockte wieder. Er hatte alles gegeben, das man vernünftigerweise von ihm erwarten konnte, und mehr war nicht drin. Er konnte die übermäßige Anstrengung, von der sein Leben abhing, nicht vollbringen. Er war kaum noch imstande, die Schaufel zu heben und über den Schnee zu scharren, geschweige denn, ein Stück herauszustechen. Carver sah, dass Larsson über den Punkt hinaus war, wo Ermunterung helfen konnte. Er würde die Sache allein zu Ende bringen müssen.
Er schuf eine hüfthohe Höhle, die gut einen Meter tief in die Schneewehe hineinreichte und gerade so breit war, dass sie zu zweit, mit dem Gesicht zur Öffnung und die Ausrüstung neben sich, darin sitzen konnten. Larsson ließ sich zu Boden sinken und brachte nicht mehr die Kraft auf, sich mit angezogenen Knien hinzusetzen. Der Kopf sank ihm auf die Brust, als könnte ihn der Hals nicht mehr tragen. Er fing an, stark zu zittern.
Carver zog Larssons Schlafsack aus dem Gepäck und breitete ihn auseinander. »Rein da«, befahl er.
Larsson brummte etwas, rührte sich aber nicht. Carver hob Larssons Sonnenbrille an. Der Blick war verschwommen ins Leere gerichtet. Die Unterkühlung hatte eingesetzt.
Carver hob mit dem linken Arm Larssons Füße an und zog mit der anderen Hand den Schlafsack zur Hälfte über die Beine. Dann griff er ihm um die Taille, zog ihn ein Stück vom Boden hoch, um den Schlafsack bis über den Po zu schieben und dann, nachdem er ihn wieder abgesetzt hatte, bis über die Schultern. Jetzt war Larsson wenigstens vor der Kälte des Bodens geschützt. Doch es gab noch wesentlich mehr zu tun.
Es war lebensnotwendig, seinen Körper mit heißer Flüssigkeit zu versorgen. Carver packte den Naphthakocher aus, baute ihn auf und pumpte das Brennstoffreservoir, um den nötigen Druck aufzubauen, bevor der Brenner auf die altmodische Art mit nackter Flamme angezündet werden durfte. Er hatte ein Päckchen Streichhölzer dabei, konnte aber nicht darauf hoffen, dass sich mit den dicken Skihandschuhen eins anreißen ließ. Er zog den rechten Handschuh aus. Sofort fing sie an zu zittern. Er versuchte, ein Streichholz zu entzünden, indem er es vorsichtig über die Reibfläche zog, ohne Erfolg. Beim zweiten Versuch übte er zu viel Druck aus, sodass es, ohne zu zünden, abbrach.
Drei weitere Versuche folgten. Einmal fing das Hölzchen Feuer, wurde aber sofort vom Wind, der über den Boden der Schneehöhle strich, wieder ausgeblasen.
Wieder fing Larsson heftig zu zittern an.
So würde das nichts werden. Sie brauchten mehr Schutz vor dem Wind. Carver zog sich den Handschuh wieder an, kroch ein Stück aus dem Loch und griff nach einem der Schneeblöcke, die er aus der Wehe herausgestochen hatte. Er zog ihn zu sich heran bis in die Höhlenöffnung. Es dauerte kostbare fünf Minuten, um eine schienbeinhohe Mauer zu errichten, fünf Minuten, in denen Larssons Zittern immer schwächer wurde. Aber jetzt gab es wenigstens einen windstillen Raum, und Carver konnte endlich den Kocher anzünden, einen Topf voll Schnee zusammenscharren und einen starken Tee kochen, den er mit Zucker und Kondensmilch süßte.
Er goss die Hälfte in einen Becher und setzte ihn Larsson an die Lippen, um ihm den Tee vorsichtig in den Mund zu gießen. Zuerst musste Larsson würgen, weil er nicht einmal schlucken konnte. Aber dann entspannte er sich und trank. Ein Funken Leben kehrte in seine Augen zurück.
Carver brachte schließlich selbst ein paar Schlucke hinunter. Er öffnete eine der Innentaschen des Rucksacks und holte einen länglichen Kendal Mint Cake heraus, einen weißen, cremigen Block aus Zucker, Glukose und Wasser mit Minzöl. Er enthielt praktisch keine Proteine, Vitamine, Mineralien oder sonst etwas, das einen gesundheitsbewussten Ernährungswissenschaftler erfreuen konnte. Doch um einen ausgelaugten
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