Samuel Carver 02 - Survivor
war auch kein angenehmer Anblick.
Bei den Frauen war es einfach: Eine war brünett, die andere blond, also Yoko und Linda.
Tagsüber hatten entweder George oder Ringo Wache unten am Tor. Wer die Morgenschicht hatte, musste früh aufstehen und die Hunde in ihren Zwinger zurückbringen, bevor er auf seinen Posten ging. Der einzige Besucher war anscheinend der Bäcker aus dem Dorf, der am Vormittag mit seinem Lieferwagen aufkreuzte. Den Mengen an Lebensmitteln und Getränken nach zu urteilen, die der Fahrer durch die Hintertür in die Küche trug, zusammen mit den Broten, Pizzen, Kuchen und Pasteten, musste er den Alleinversorgungsauftrag für die Hütte haben.
Auf der Terrasse stand ein Grill, und Paul hatte jeden Abend die Aufgabe, die Steaks und Fleischspieße zu grillen. Davon abgesehen blieb die Hausarbeit den Frauen überlassen, die als Hausmädchen, Köchinnen, Augenschmaus und Sexspielzeuge zugleich dienten. Carver konnte sich vorstellen, wie Aliks die Szene schildern würde, zwar nicht wörtlich, aber er kannte ihre zynischen Formulierungen und den trockenen Witz. Er fragte sich, wie oft sie schon an Stelle dieser beiden Frauen gewesen war, schob den Gedanken aber rasch beiseite, da er es vorzog, sich auf die Zukunft zu konzentrieren. Nicht mehr lange, dann würde er sie wiedersehen. Ein Abschiedskuss für Vermulen, und sie konnte diesem Leben für immer Adieu sagen.
Am Nachmittag des zweiten Tages beschloss Carver, dass er genug gesehen hatte. Er wollte den Auftrag am nächsten Tag ausführen. An diesem Abend würde er sich ein Hotelzimmer suchen und für einen anständigen Schlaf, eine heiße Dusche und eine gute Mahlzeit sorgen. Aber vorher würde er noch Vermulens Paket von der Post in Vence abholen. Außerdem gab es eine Liste von Besorgungen, die er zu machen hatte: Zucker, Leinöl, Lebensmittelfarbe, Ohrstöpsel und einen Haufen anderes Zeugs, von Pinseln bis zu Fleischpastete. Dafür würde er mehrere Geschäfte aufsuchen müssen.
Und dann waren da noch Sauerstofftabletten fürs Aquarium. Nicht die Zoohandlung vergessen, ermahnte er sich.
60
»Bitte, Gospodin Novak, bedienen Sie sich. Ich bin eine Frau, ich muss auf meine Figur achten. Aber ich sehe gern zu, wenn ein Mann sein Essen genießt.«
Olga Schukowskaja blickte ermutigend auf den legendären Vorspeisenwagen in den Drei Husaren in Wien. Darauf standen über dreißig Speisen der Saison, von Kalbsbries über Kaviar, Foie gras, geräucherten und marinierten Lachs bis zu Fleisch- und Gemüseterrinen, und das waren nur die Hors d’œuvres.
Zum Leidwesen des Kellners in seiner gestreiften Weste, der abwartend neben dem Wagen stand, hatte Pavel Novak keinen großen Appetit. Und er war auch nicht in der Stimmung, den behaglichen Luxus der Bibliothek zu würdigen, des kleineren der beiden Speiseräume des fünfundsechzig Jahre alten Restaurants. Unter normalen Umständen hätte er sich entspannt und zufrieden gefühlt angesichts der Bücherborde mit den alten Bänden, der Körbe mit Narzissen, der Marmorstatuen in den Wandnischen, der warmen Holztäfelung und der dunkelgrünen Speisesessel. Aber nicht, wenn die schlimmste Gestalt seiner Albträume vor ihm am Tisch saß.
Allein der Umstand, dass er und Schukowskaja russisch sprachen, beschwor die übelsten Erinnerungen in ihm herauf. Fast fünfzehn Jahre lang hatte er daran gearbeitet, die Herrschaft der Sowjetunion zu stürzen, indem er Geheiminformationen an den Westen weitergab. In all der Zeit hatte er sich unentdeckt geglaubt. Und jetzt, über acht Jahre nach der Samtenen Revolution, die seiner tschechischen Heimat die Freiheit gebracht hatte, holten ihn die Russen doch noch ein.
Als er den Anruf erhielt, mit dem er zum Abendessen eingeladen wurde, war ihm klar gewesen, wer die Schukowskaja war und was sie repräsentierte. Er hatte zugesagt, weil es keinen Zweck hatte, sich zu weigern oder zu fliehen. Wenn sie hinter ihm herwaren, würden sie ihn kriegen. Wenn nicht, würde es ihm nicht schaden, wenn er sich mit einer legendären Gestalt der sowjetischen Geheimdienste traf. Doch sein Fatalismus machte ihn nicht weniger nervös.
Schukowskaja spürte natürlich sein Unbehagen. Sie hatte sich daran geweidet, sogar ein bisschen damit gespielt, bevor sie sich entschied, ihn aus seinem Elend zu erlösen. Wenn sie diese erbärmliche Ratte mit dem mitleiderregenden Schnurrbart, die vor ihren Augen vor Angst schwitzte, noch länger ansehen musste, würde ihr noch der Appetit vergehen. Es hatte
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