Samurai 2: Der Weg des Schwertes (German Edition)
Also konzentrierte er sich auf das Brausen des Baches unter ihm und versuchte abzuschätzen, wie weit er schon gegangen war.
Endlich gelangte er an den grasbewachsenen Rand auf der anderen Seite. Er machte die Augen auf, erstaunt, dass er beim Hinübergehen kein einziges Mal nach unten gesehen hatte.
Akiko trat an den Stamm, schloss die Augen und hatte die Schlucht mit wenigen raschen Schritten überquert. Sie bewegte sich so sicher wie eine Tänzerin. Die anderen wirkten im Vergleich zu ihr plump und unbeholfen.
Dann warteten sie auf Yamato. Doch er schob die Überquerung noch etwas hinaus, indem er Emi höflich den Vortritt ließ.
Auch sie ging rasch hinüber. Yamato trat wieder in der Reihe zurück. Saburo ging mit schlurfenden Schritten und blieb immer wieder stehen, Yori sprang geradezu hinüber, Kiku folgte ihm auf den Fersen. Nobu legte das letzte Stück rittlings auf dem Baumstamm sitzend zurück, Kazuki spazierte hinüber, ohne die Augen zu schließen.
Zuletzt stand nur noch Yamato auf der anderen Seite.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, rief Jack. »Mach einfach die Augen zu und gehe geradeaus, dann kann dir nichts passieren.«
»Ich weiß!«, erwiderte Yamato gereizt, blieb aber trotzdem stehen. Der Stock in seinen Händen zitterte.
»Sieh mit den Augen des Herzens und glaube an dich, dann hast du nichts zu fürchten«, sagte Sensei Kano, der auf der gegenüberliegenden Seite wartete.
Yamato kniff die Augen fest zu, holte tief Luft und betrat den Stamm. Mit quälend kleinen Schritten schob er sich voran. Auf halbem Weg begann er heftig zu schwanken. Es sah aus, als würde er abstürzen, und die Schüler hielten erschrocken die Luft an, doch er fing sich wieder und kroch wie eine Schnecke weiter.
»Jetzt hast du es gleich geschafft«, rief Saburo ermutigend, als Yamato nur noch vier Schritte vom Ende des Stamms entfernt war.
Leider sagte er damit genau das Falsche. Yamato öffnete die Augen, sah den schwindelerregenden Abgrund unter sich und geriet in Panik. Er begann zu rennen und rutschte aus.
Er schrie. Sein Schicksal schien besiegelt.
Blitzschnell streckte Sensei Kano seinen Stock aus, fing Yamato an der Brust ab und warf ihn nach oben und in Sicherheit. Yamato landete im Gras und blieb zitternd liegen.
»Du hast die Augen aufgemacht und die Angst in dich hineingelassen, nicht wahr?«, sagte Sensei Kano. »Du wirst lernen, dich nicht von dem, was du siehst, verunsichern zu lassen.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und führte die Schüler tiefer in den Wald hinein.
Jack, Akiko und Saburo eilten zu Yamato, um ihm aufzuhelfen, doch er stieß sie mürrisch zurück. Er war wütend auf sich selbst, weil er vor der ganzen Klasse das Gesicht verloren hatte.
»Wie hat Sensei Kano das bloß gemacht?«, fragte Jack die anderen. Die schnelle Reaktion des b ō -Meisters hatte ihn vollkommen verwirrt. »Er ist doch blind!«
»Du wirst das verstehen, sobald wir beim Kloster sind, Jack-kun«, rief der Sensei, der weit vor ihnen den Weg anführte.
Die Freunde wechselten erstaunte Blicke. Sensei Kano war bereits nicht mehr zu sehen, aber er hatte sie trotzdem gehört.
»In diesem Tempel hat Sensei Sorimachi, der Begründer der Mugan Ry ū , der Schule ohne Augen, seine Ausbildung angefangen«, erklärte Sensei Kano. »Die Schule gründet auf der Einsicht, dass der, der nur mit den Augen sieht, gar nichts sieht.«
Die Schüler standen in zwei Reihen vor ihm, hielten die Stöcke an sich gedrückt und hörten gehorsam zu. Sensei Kano hatte sie zu einem großen, offenen Hof geführt, an dem die Ruinen des Kompon Chu-do standen, des größten Tempels des einst so bedeutenden und mächtigen Klosters Enryakuji.
Das lange, geschwungene Dach des Tempels war an verschiedenen Stellen eingestürzt. Rote und grüne Ziegel lagen in Scherben auf dem Boden wie von einem Drachen abgeworfene Schuppen. Abgebrochene hölzerne Pfeiler ragten schief in die Höhe und durch baufällige, löchrige Mauern sah man geplünderte Schreine und zerbrochene steinerne Götterbilder. Das Klosterleben schien in jeder Hinsicht erloschen.
Doch tief im Innern des Tempels brannte noch eine einzige Laterne, das »ewige Licht«, wie Sensei Kano ihnen erklärte. Der Mönch Saicho, der Gründer des Klosters, hatte sie vor über achthundert Jahren angezündet und ein einsamer Mönch kümmerte sich bis heute darum, dass sie nicht ausging.
»Der Glaube erlischt nie«, sagte Sensei Kano. Dann begann er mit dem
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