Samurai 4: Der Ring der Erde (German Edition)
ich bereits erklärt habe, ist der Himmel die Leere, die unsichtbare Kraft des Universums.«
»Woher weiß man, dass es sie gibt, wenn man sie nicht sehen kann?«, fragte Jack.
Soke hob den Kopf. »Sag mir: Ist der Himmel leer?«
»Nein, voller Sterne.«
»Genauso ist auch der Ring des Himmels nicht leer. Die Sterne sind da, obwohl du sie tagsüber nicht siehst. Auf dem Ring des Himmels gründet mikkyo, unsere geheime Lehre. Sie beinhaltet Meditation, Gedankenkontrolle und die Magie der kuji-in.«
»Magie?«, fragte Jack.
»Ja. Die geistigen Ursprünge der Ninja liegen in Shugendo, einer uralten Religion, die uns lehrt, auf die Natur zu hören und uns ihre Kräfte zunutze zu machen. Ein Ninja, der diese Religion praktiziert, kann das Ki aufrufen, die geistige Kraft der Leere, und es seinem Willen unterwerfen.«
Jack hatte die Kraft des Ki schon einmal erlebt. Damals hatte Sensei Yamada ihn unter Einsatz der geheimen Kunst des kiaijutsu kampfunfähig gemacht. Er glaubte deshalb bereitwillig, dass die Ninja tatsächlich über magische Kräfte verfügten.
»Der Ring des Himmels symbolisiert auch das Ideal des klaren Geistes. Ein Ninja mit einem klaren Geist erspürt seine Umgebung und handelt, ohne zu denken, ohne seine körperlichen Sinne einzusetzen.«
»Meint Ihr so etwas wie mushin?«, fragte Jack. Sein Schwertmeister Sensei Hosokawa hatte ihn den geistigen Zustand der Bewusstseinslosigkeit gelehrt.
Soke nickte. »Ich sehe, du beginnst zu verstehen. Ab jetzt soll alles, was dich umgibt, dein Lehrmeister sei n – einschließlich der Berge, Flüsse, Pflanzen und Tiere.«
Soke war völlig im Dunkeln verschwunden. Nur noch seine Stimme war übrig.
»Meistere die fünf Ringe. Lerne geduldig zu ertragen wie die Erde, zu fließen wie das Wasser, anzugreifen wie das Feuer, zu laufen wie der Wind und alles zu sehen wie der Himmel. Dann, junger Samurai, bist du ein Ninja.«
16
Die Kunst der Heimlichkeit
»Mach schon!«, drängte Hanzo. »Wir wollen nicht die Letzten sein.«
Jack verknotete die Bänder seiner Hose an den Knien und schlüpfte in die langen tabi- Stiefel. Über das Hemd mit den eng anliegenden Ärmeln hatte er eine Jacke gezogen und diese mit einem Obi geschlossen. Gesichtsschal und Kapuze ließ er auf dem Bett liegen, für die Übungsstunden brauchte er sie nicht.
Dann richtete er sich auf und blickte an sich hinab. Er hätte nie gedacht, dass er eines Tages die Kleider eines Ninja tragen würde. Ein Schauer überlief ihn, als wäre der Geist Drachenauges in ihn gefahren. Mochte sein Vater oben im Himmel ihm verzeihen und Masamoto hoffentlich nie etwas von all dem erfahren.
Jedes seiner Kleidungsstücke war dunkelgrün gefärbt. Um besser mit dem Wald zu verschmelzen, hatte Soke gemeint.
Jack faltete seine eigenen Kleider zusammen und legte sie neben seine Tasche. Dabei fiel ihm der Portolan ein. Nur ungern ließ er ihn ungeschützt im Haus zurück, doch er hatte keine andere Wahl. Ein wenig beruhigte ihn, dass Soke bisher keinerlei Interesse an seiner Tasche gezeigt hatte. Jack war überzeugt, dass der Großmeister nichts von dem Portolan wusste, und so sollte es auch bleiben. Kurz entschlossen stopfte er seine Kleider in die Tasche. Das konnte einen Dieb zwar nicht abhalten, aber vor neugierigen Blicken war der Portolan jetzt besser geschützt.
»Gehen wir!«, sagte Hanzo und zog Jack am Arm.
Sie eilten die Straße entlang und zum Dorf hinaus. Hanzo hüpfte auf einem schmalen Pfad voraus, der durch bewaldetes Gelände zum tiefsten Punkt des Tals führte. Es war noch nicht einmal hell und die ersten Vögel begannen ihr morgendliches Gezwitscher. Jack, der sich erst noch den Schlaf aus den Augen reiben musste, holte Hanzo auf einer versteckten kleinen Lichtung ein, wo sich ein Bach träge zwischen den Bäumen hindurchwand.
Soke erwartete sie bereits. Er begrüßte Jack mit einer Verbeugung. »Ich hoffe, es ist nicht zu früh für dich.«
»Überhaupt nicht.« Jack verbeugte sich gähnend.
»Die Morgen- und die Abenddämmerung sind die Zeiten des Sehens und Nicht-gesehen-Werdens, die beste Zeit für Übungsstunden und Aufträge.« Soke warf einen Blick über Jacks Schulter. »Gut, nun da wir alle da sind, können wir anfangen.«
Jack blickte sich um, doch abgesehen von Hanzo war die Lichtung leer. Der Unterricht an der Niten Ichi Ryu hatte immer klassenweise stattgefunden, deshalb überraschte es ihn, keine anderen Schüler zu sehen.
Soke lächelte verschmitzt. »Heute beschäftigen wir
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