Sanctum
Unterkiefer schmerzte höllisch, er knackte, und die Zähne taten ihm weh, als würden zwei Dutzend Barbiere um ihn herumstehen und ihm alle auf einmal ziehen wollen. Jean brach in die Knie, ein Schütteln befiel ihn.
Niemand kümmerte sich um den verzweifelten Mann. Irre waren zu gefährlich, die Stadtwachen würden sich seiner annehmen.
Ich muss weg! Keuchend erhob er sich. Ich muss aus der Stadt, ehe ich Menschen anfalle und zerfetze. Er torkelte an den Häuserwänden entlang und nutzte die rauen Mauern als Stütze und Orientierung gleichermaßen, während seine Sicht mehr und mehr verschwamm.
Dafür roch er plötzlich umso besser.
Rom hielt Düfte für ihn bereit, von denen er nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. Seine Schritte verlangsamten sich, er sog die Luft ein und genoss. Es roch nach Beute. Der Regen schaffte es nicht, die Witterungen zu verwischen und zu verschleiern.
Ein brennender Schmerz quälte ihn, er wollte aufschreien und ließ ein heiseres, gellendes Jaulen erklingen. Er hatte sich in eine Bestie verwandelt! Der Mensch Jean saß gefangen in dem haarigen, kräftigen Körper eines Wesens, das nach Blut gierte, um den Durst, der sich weder mit Wasser noch mit Wein stillen ließ, endlich zu löschen!
Die Bestie rannte durch die Gassen. Jean sah seinen veränderten Körper, der sich kraftvoll und geschmeidig bewegte. Er sprang geradewegs auf einen Mann los, der eben aus einem hell erleuchteten Gebäude trat, aus dem unzählige Gerüche durch die Tür und Ritzen in den Fenstern strömten. Es musste ein Gasthaus sein. Der Mann sah Jean nicht kommen, bis er sich auf ihn warf und ihm mit den Klauenhänden den Mantel und das Hemd darunter zerriss, um an die ungeschützte Kehle zu gelangen. Sein Opfer gab einen erstickten Ruf von sich, dann senkte Jean seine Zähne in den Hals und biss zu.
Er schmeckte das warme Blut und der Durst steigerte sich ins Unermessliche und verlangte von ihm, mehr zu saufen, zügelloses Saufen, und er knurrte dabei voller Wonne und Erregung. Dieses Empfinden übertraf alles, was er bislang erlebt hatte, und er wollte es nicht mehr missen.
In seinem Rausch vernahm er dennoch, wie sich die Tür hinter ihm ein weiteres Mal öffnete, dann erklang das schrille Schreien einer Frau.
Fauchend drehte er den Kopf und sah eine Hure, die mit ihrem Freier auf die Straße getreten war. Jetzt wollte Jean wissen, wie das Blut einer Frau schmeckte, und sofort stieß er sich grollend ab und flog mit ausgestreckten, blutigen Händen auf sie zu.
Von da an verschwand die Welt in tiefem Rot, im Geschmack von Blut und Fleisch …
Jean erwachte in seinem zerwühlten Bett und war nackt. Erschrocken richtete er sich auf und sah sich um.
Seine Kleider lagen nass in der ganzen Stube verteilt, und er wusste nicht mehr genau, ob er die Bilder der Nacht geträumt oder tatsächlich durchlebt hatte. Was habe ich angerichtet? Er hob die Hände und sah –
– dass sie nicht blutverschmiert waren.
Habe ich überhaupt etwas angerichtet?
Die Narbe leuchtete boshaft und schmerzte.
Seine Augen richteten sich auf den Silberdolch, der neben ihm auf dem Nachttisch lag. Langsam streckte er die Finger danach aus, die Kuppen berührten die kühle Klinge.
Als er spürte, dass die Haut sich erwärmte, zog er den Arm schnell zurück.
XI.
KAPITEL
Italien, Rom, 29. November 2004, 09.12 Uhr
Eric traute seinen Augen nicht.
Er lag nackt auf dem Boden des Speisesaals, die Sonne schien durch die Fenster und beleuchtete … Severina. Eine körperlich unversehrte Severina, mit allen Armen, Beinen und sonstigen Körperteilen, die eine gesunde Frau im Allgemeinen besaß. Keine Bissspuren, nicht einmal ein Kratzer und schon gar kein erneutes Massaker.
Sie ruhte neben ihm, hatte den Kopf auf den Arm gestützt, betrachtete ihn aus ihren blauen Augen und lächelte; blonde Haarsträhnen hingen auf ihren Rücken und schimmerten im Licht. »Guten Morgen«, sagte sie. »Was für eine Nacht!«
»Ja«, krächzte er und fragte nicht, was sie damit meinte. Diese Blöße wollte er sich nicht geben. Der Druck aus seinem Schädel war verschwunden, die Bestie hatte sich zurückgezogen. Ihre Zeit war für die nächsten Wochen wieder vorüber. Bis zum nächsten Vollmond. Eric schwor sich, den Wolf bis dahin nicht mehr in sich zu tragen. »Ja, sie war … gut.«
»Gut?« Severina setzte sich auf. »Es war die unglaublichste Nacht meines Lebens! Und wenn ich die nächsten Tage breitbeinig wie ein Cowboy laufen werde …«,
Weitere Kostenlose Bücher