Sanctum
Familie de Morangiès, Südfrankreich
Ich hätte schon viel früher nach ihm suchen müssen und mich nicht auf die Briefe verlassen sollen, die mir Lentolo brachte.« Durch die beschlagene Scheibe der Kutsche sah Gregoria schemenhaft das Schloss der Familie de Morangiès auftauchen. »Kein einziger war von Jean.
Sie ärgerte sich, dass sie die Echtheit der spärlichen Nachrichten nicht viel früher in Zweifel gezogen hatte. Einige Formulierungen waren ihr bald merkwürdig erschienen, und als sie probehalber Anspielungen in ihre geschriebenen Antworten einfließen ließ und die falschen Erwiderungen kamen, wusste es sie es: Jemand hatte sie beinahe ein Jahr lang getäuscht. Es gab keine ersten Erfolge, keine Verfolgungsjagden in Paris, weder in der Bretagne noch in Bordeaux.
»Lentolo hat wirklich alles abgestritten?«, fragte Sarai, die ihr gegenübersaß, nicht zum ersten Mal auf dieser Reise. Der Verrat schien ihr zu unfassbar.
»Er ist ein Lügner, Sarai, und nicht einmal ein besonders geschickter. Er beschuldigte die Jesuiten, seine geheimen Boten bestochen zu haben.« Gregoria konnte ihm nicht das Gegenteil beweisen, sah es aber als erwiesen an, dass er dahintersteckte. »Was ich nur nicht verstehe, ist, warum er es getan hat …«
»Der Grund für die falschen Nachrichten liegt auf der Hand.« Sarai ordnete gedankenverloren die Falten ihres einfachen hellen Reisekleids und zog ihren gefütterten Mantel enger um sich. Das Gevaudan war eisig kalt, kein Vergleich zu Rom. »Hätte es keine Nachrichten von Monsieur Chastel gegeben, wärt Ihr viel früher aufgebrochen, um nach ihm zu suchen. Lentolo und der Kardinal brauchen Euch aber für die Schwesternschaft.«
Taten sie das wirklich? Gregoria hatte ihre Zweifel daran. Zu oft hatte sich unter dem Lob und der Ehrerbietung ihrer Verbündeten ein versteckter Dolch gefunden, der unbarmherzig zusteche sollte, wenn Gregoria es am wenigsten erwartete. Vielleicht war es die Rache dafür, dass ich Florence zusammen mit Marianna im Geheimen ins Alsace geschickt habe, überlegte sie und fröstelte trotz ihrer warmen Kleidung. Sie trug ein schwarzes, weit geschnittenes Kleid, darüber einen weißen Mantel. Ihre langen blonden Haare waren zu einem Dutt zusammengefasst und lagen unter einer Pelzmütze verborgen.
»Vielleicht hast du Recht, Sarai. Aber was auch immer geschehen mag, merke dir: Vertrauen ist ein Geschenk, das man oft zu teuer bezahlen muss.«
»Der Preis für manches scheint mir furchtbar hoch zu sein.« Die Seraph seufzte und wischte mit dem Handschuh das Glas des Kutschfensters trocken. Es gab dennoch kaum etwas zu sehen. Der Nebel, der draußen herrschte, verschluckte die Umgebung. Alles, was sich weiter als drei Schritte vom Betrachter entfernt befand, wurde undeutlich und zu einem Spuk. Selbst ein so großes Gebäude wie ein Schloss. »Ich hoffe, dass nicht alles stimmt, was wir herausgefunden haben.« Sie schlug die Augen nieder. »Dass der Comte tot ist, würde mir gefallen, aber wenn die unbekannte junge Frau an seiner Seite Judith war, dann …« Sie schwieg, schlug das Kreuz und betete stumm für die Seele der vermissten Seraph.
Gregorias Hals schnürte sich zu. Auch sie hoffte von ganzen Herzen, dass man den Gerüchten, die sie über Jean gehört hatten, nicht glauben musste. Es hieß, dass er in den Wäldern des Gevaudan hauste, fernab der Menschen, verwahrlost, verwildert und wahnsinnig wie vor ihm sein Sohn Antoine. Sie fürchtete sich vor dem Schluss, den sie aus den Erzählungen ziehen musste.
Sarai hob den Kopf, ihre blauen Augen blickten unsicher. »Äbtissin, wenn der Marquis der Vater der Bestie ist …«
»Dafür kann ich ihn nicht schuldig sprechen.«
»… wieso vertrauen wir ihm dann? Er könnte ebenso ein Wandelwesen sein.«
»Nein, das ist er sicherlich nicht. Jean erzählte mir von seiner Unterredung mit ihm, und wie er unter den Taten seines Sohnes litt.« Sie betete, dass sie bei ihm Unterstützung fand und mit seiner Hilfe ihren fürchterlichen Verdacht widerlegen konnte.
Die Kutsche hielt vor dem Schloss an, Bedienstete eilten herbei und halfen den Frauen beim Aussteigen. Sarai hatte einen ledernen Rucksack bei sich, in dem sie verschiedene Waffen mit sich führten; Pistolen und Dolche trugen sie unter ihren Mänteln.
Sie wurden bereits vom Marquis erwartet, der sie in einem hohen Zimmer empfing, dessen dunkle Wandteppiche das bisschen graue Licht, das hereinfiel, auffraßen; sie hingen noch nicht lange dort und
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