Sanctum
verdeckten eine Reihe von Bildnissen, deren Rahmen sich darunter abzeichneten. Der Raum wirkte düster, und ebenso düster sah der Marquis aus. Der Gram über den Tod seines Sohnes hatte sein Gesicht gezeichnet. Im krassen Gegensatz dazu stand jedoch sein übertrieben prachtvolles Auftreten: Er trug eine Uniformjacke aus edlem schwarzen Stoff, an der etliche Ehrenabzeichen prangten, auf seinem Kopf saß eine eindrucksvolle Weißhaarperücke und eine Hand hielt den Griff eines aufwändig gearbeiteten Reitersäbels.
Als sie eintraten, stand er auf und verneigte sich andeutungsweise. »Bonjour, mesdames.« Er stutzte. »Natürlich erkenne ich Euch wieder«, die graugrünen Augen fuhren taxierend über Gregorias Kleidung, »aber ich weiß nicht, ob ich Euch immer noch Äbtissin nennen darf.«
»Ich bin es nicht mehr, mon Seigneur. Nennt mich Madame Montclair«, erwiderte Gregoria und verneigte sich. Sarai tat es ihr nach, danach nahm Gregoria gegenüber dem Marquis Platz. »Das ist eine gute Freundin, Madame Ange, die mich auf meiner Reise begleitet.« Die Seraph blieb schräg neben ihr stehen. »Lasst mich mein Bedauern über Euren Verlust aussprechen, auch wenn ich weiß, dass Ihr den Tod Eures Sohnes begrüßt habt, mon Seigneur.«
Er setzte sich und sah sie verwundert an. »Was meint Ihr damit, Madame?«
»Ich kenne das Geheimnis, das ihn und die Familie Chastel verbindet. Ich nehme sogar an, dass es Jean Chastel war, der Euren Sohn erschoss, wie er es Euch versprochen hat, als er Euer Schloss vorletztes Jahr verlassen hat.«
Der Marquis atmete tief ein und öffnete eine Flasche, in der sich eine goldklare Flüssigkeit befand, goss sich ein und leerte das Glas, um sich sofort nachzuschenken. »Ihr reißt alte Wunden auf, Madame Montclair«, sagte er abwesend und schaute durch sie hindurch ins Nirgendwo.
»Jean Chastel hat Euren Sohn auch gejagt, weil er ein Kind entführte. Das Kind meines Mündels Florence«, fuhr sie fort. »Ich frage Euch, mon Seigneur: Hat man ein Kind im Schloss Eures Sohnes gefunden? Und wo ist Monsieur Chastel abgeblieben? Streift er durch die Wälder, wie ich es …« Gregoria redete immer schneller, die Sorge beflügelte ihre Zunge.
»Halt, Madame«, unterbrach er sie. »Lasst mich die Umstände des Todes meines Sohnes schildern.« Er leerte das Glas erneut, ein drittes Mal goss er nach. »Wir fanden ihn auf den Stufen vor seinem Schloss, sein Körper war übersät mit Wunden von Schüssen und Stichen. Die abgebrochene Klinge eines Silberdolches wurde aus ihm gezogen, und in den Stallungen lagen die zerstückelten Leichen der Burschen, die in seinen Diensten standen. Im Eingang des Schlosses lag die auf grauenhafte Art geschändete Leiche einer jungen Frau. Eine Unbekannte, sie war nicht aus der Gegend.« Er betrachtete Sarai. »Sie müsste ungefähr Euer Alter gehabt haben, auch wenn ich dies nur anhand der Überreste schätzen kann. Sie hatte braunes Haar und … nein, die Einzelheiten ihrer Verletzungen möchte ich Euch ersparen.« Seine Rechte krampfte sich um den Säbelgriff; Gregoria bemerkte, dass er mit einem silbernen Draht umwickelt war. Erleichtert stellte sie fest, dass der Marquis kein Wandelwesen sein konnte. »Es war das Werk einer Bestie, wenn Ihr mich fragt, Mesdames. Ich ließ aber verlauten, dass es sich um die Rache seiner Gläubiger handelte.«
»Was denkt Ihr, was sich zutrug?«, hörte sich Gregoria selbst fragen.
»Ihr seid offenbar in alle Einzelheiten der Materie eingeweiht, wenn es um die Loups-Garous geht.« Er schwieg und räusperte sich dann. »Daher nehme ich kein Blatt vor den Mund. Ich fürchte, Madame Montclair, dass Monsieur Chastel bei seiner heldenhaften Tat von meinem Sohn gebissen wurde und als neue Bestie durch das Gevaudan zieht. Weil er weiß, was er ist, hält er sich von den Menschen fern und hat sich in die Wälder geflüchtet.« Er trank aus. »Die Information, dass mein Sohn ein Kind entführte, ist mir neu. Mag sein, dass Monsieur Chastel es trotz seiner … Krankheit sucht. Es würde sein Verhalten erklären.«
Gregoria saß wie versteinert da. Ihr Verdacht war durch die Mutmaßung bestätigt worden, doch … Jean kann keine Bestie sein, das Sanctum hätte es verhindert. Oder konnte er es nicht rechtzeitig einnehmen? Hat er es zuvor verloren? Sie weigerte sich, an solche furchtbaren Möglichkeiten zu glauben.
»Könnt Ihr mir sagen, warum mein Sohn das Kind Eures Mündels entführte?«, brach der Marquis in ihre Gedanken ein.
Sie
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