Sanctum
aufzustehen. »Ich bin Kardinal Rotonda und habe vernommen, dass Ihr den Heiligen Vater sprechen möchtet.« Obwohl seine Stimme freundlich klang, hatte sie dennoch einen Unterton, den Gregoria auf Anhieb nicht mochte. »Vielleicht kann ich Euch dabei helfen. Im Gegensatz zu Monsignore Vapari bin ich durchaus gewillt, mir Eure Geschichte anzuhören. Überzeugt mich, und ich werde sehen, was ich für Euch erreichen kann.«
Gregoria spürte eine große Überheblichkeit in seiner Stimme, sah sie in seinem Blick und seiner Haltung. Es mochte eine Besonderheit der römischen Kardinäle sein, die aus der ständigen Nähe zum Heiligen Vater resultierte – man hielt sich vielleicht mit der Zeit für ebenso bedeutsam. Die Augen des Mannes besaßen noch dazu etwas Lauerndes. Gregoria mahnte sich selbst zur Vorsicht, nicht zu viel preiszugeben. »Eminenz, Ihr erweißt mir eine große Ehre. Ich bin … ich war Äbtissin des Klosters von Saint-Grégoire bei Saugues.« Sie achtete auf sein Gesicht, wartete aber vergebens auf eine Reaktion. Das war die erste Enttäuschung. »Mein Kloster wurde Opfer einer ungeheuerlichen Tat, die sicher bis in die Heilige Stadt bekannt wurde«, versuchte sie es noch einmal. Und setzte schließlich nach: »Es wurde niedergebrannt.«
»Das tut mir sehr Leid, Äbtissin. Doch ist es nicht Aufgabe der Adligen und der Gerichte, sich der Verfolgung von Verbrechen dieser Art zu widmen?«
Gregoria zögerte, dem Kardinal tiefere Einblicke zu offenbaren. »Es ging nicht alles mit rechten Dingen zu, Eminenz. Es waren … . Es waren keine gewöhnlichen Räuber.« Nein, mehr durfte sie ihm nicht offenbaren. »Der Heilige Vater muss davon erfahren.«
»Ich verstehe nicht ganz, Äbtissin. Und ich muss leider sagen, dass Ihr wirklich wie eine Verwirrte klingt, ganz so, wie es der Monsignore sagte.« Die grünen Augen ruhten auf ihr und ermunterten sie, weiter zu sprechen. »Vertraut Euch mir an, auf dass ich Euch glauben kann.« Das unentwegte Lächeln um seine Lippen erinnerte Gregoria zunehmend weniger an einen gütigen Vater … sondern einen eiskalten Verführer. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht!
Gregoria verneigte sich schnell und küsste erneut den Ring. »Verzeiht, Eminenz, ein anderes Mal.« Mit pochendem Herzen entfernte sie sich von ihm, wie es ihr die Intuition befahl. Sie ging zügig über den Platz und begab sich in den Schutz der Gassen. Es würde kein anderes Mal geben.
Als sie sich noch einmal umschaute, sah sie in weiter Entfernung Kardinal Rotonda, der mit dem Rücken zu ihr stand und sich mit einem Mann unterhielt. Gregoria erschrak. Nein! Das darf nicht sein! Konnte es wirklich wahr sein, dass sie dort drüben den Legatus Francesco sah?
Der Mann wandte den Kopf – und sie beruhigte sich wieder. Nein, er war es nicht. Gregoria bekreuzigte sich und bog um die Ecke in eine andere Gasse.
Sie sah sich nach wie vor dazu auserkoren, das Geheimnis um den Legaten zu lüften und die gottlosen Täter zu überführen. Dabei würde es für sie keinerlei Rolle spielen, welchen Ornat sie trugen. Gregoria schwor den Heiligen, an deren Bildern und Statuen sie im Dom vorbeigegangen war, dass sie vor nichts und niemand Halt machen würde. Sie würde einen Weg finden, allen Vaparis des Vatikans zum Trotz, mit dem Heiligen Vater zu sprechen.
16. August 1767, Frankreich, Versailles
Angesichts der Pracht, die alles übertraf, was er jemals beim Marquis de Morangiès gesehen hatte, kam sich Jean klein vor. Frankreichs Könige hatten sich mit Versailles etwas erschaffen, was ein einfacher Mann aus dem Volk wie er kaum fassen konnte. Es war mehr als nur ein Überangebot an Schönheit. Es war Verschwendung in Vollendung, mehr als Luxus und Prunk.
Das Wort, das Jean als Erstes in den Sinn kam, als er die Flure entlang zur Audienz des Königs schritt, war weder Prahlsucht noch Maßlosigkeit. Es war Sünde. Die Menschen des Gevaudan lebten in bitterer Armut, und vielen Leuten in den Dörfern, durch die er auf seiner erzwungenen Reise gekommen war, erging es ebenso. Es gärte in den Häusern und auf den Marktplätzen, die Unzufriedenheit war überall deutlich zu spüren. Könnten die Hoffnungslosen Frankreichs dieses Bauwerk und die Einrichtung sehen, es würde einen Aufschrei geben, der das Land in seinen Grundfesten erschüttern müsste.
»Warte hier. Und gib das her.« Der Diener, hinter dem er hergegangen war, zeigte auf die Büchse. Jean reichte ihm die Waffe. Der Mann entlud die beiden Läufe
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