Sanctum
einem langen Fußmarsch das Zimmer der Äbtissin. Jean setzte sich auf den Stuhl, Gregoria ihm gegenüber auf das Bett. Sie nahm seine Hand und berichtete ihm von ihren Erlebnissen mit Kardinal Rotonda, dem Besuch von Lentolo, ihrem Einbruch in der Amtsstube und ihrem Fund: dem Atlas mit den verborgenen Schriften darin.
Jean entzündete drei weitere Lampen, damit sie genügend Licht zum Lesen hatten. Nacheinander nahmen sie die dünnen Blätter heraus, Gregoria sammelte sie und überflog sie. Später würde sie die Aufzeichnungen für Jean ins Französische übersetzen, bis dahin musste er sich mit einer kurzen Zusammenfassung begnügen.
»Es sind Berichte aus verschiedenen Teilen der Erde, versehen mit den Namen der Missionare, welche die Nachrichten sandten.« Ungläubig starrte Gregoria auf die Zeilen. »Es gibt diese Wandelwesen überall! Und sie haben anscheinend«, sie blätterte vor und zurück, »nicht nur die Gestalt von Wölfen, Jean. Es gibt alle möglichen Arten, Tiger, Löwen … hier ist sogar von einem Schakalstamm in Ägypten die Rede.«
Sie schluckte und sah ihm in die Augen. »Wir können sie unmöglich alle finden und töten!« Im gleichen Moment erinnerte sie sich wieder an Lentolos Worte. Die Erkenntnis über die weite Verbreitung des Bösen war noch ein Grund mehr, einen Orden zu gründen. Die Diener des Herrn mussten ebenso zahlreich sein wie die Ausgeburten der Hölle.
»Das müssen wir aber«, erwiderte Jean nicht weniger erschüttert als sie. Er hatte befürchtet, dass es vielleicht wirklich ein Rudel von Geschöpfen wie den Comte geben könnte, aber die Listen, die ihm Gregoria zeigte, verkündeten weit größeren Schrecken. »Wir sind die Einzigen, die von ihnen wissen und wie man sich ihrer erwehren kann.«
Gregoria schüttelte ihre Beklemmung ab und machte sich auf die Suche nach Hinweisen auf Florence. Sie fand ein eigenes Blatt nur über das Gevaudan. »Sie haben schon lange ein Auge auf unsere Heimat geworfen«, teilte sie ihm mit. »Sie ahnten seit ein paar Jahren, dass sich etwas im Gevaudan herumtrieb. Der erste geheim angereiste Legatus hat nichts Verdächtiges bemerkt und gilt seit 1764 als verschollen.«
Jean nickte. Das konnte der Mann gewesen sein, den er zusammen mit seinen Söhnen erschossen hatte, als ihre Wege das erste Mal den der Bestie kreuzten. Vermutlich hatte er der Kirche nach seiner Infektion durch den Comte oder das Weibchen die Unwahrheit geschrieben, um nicht Opfer seiner eigenen Leute zu werden.
»Sie hatten von Anfang an den jungen Comte im Verdacht, dessen Lebenswandel ihnen verdächtig genug erschien, um ihn für die Bestie zu halten. Außerdem …« Sie schaute auf den Namen und schwieg. Madame du Mont! Beim Allmächtigen, sie haben von Florences Mutter gewusst und dass sie ein Kind vom Comte bekommen hat. Danach suchten sie das Kind und … Ihre graubraunen Augen flogen über die Zeilen.
»Gregoria?«
»Dann wurden sie auf Antoine aufmerksam, und als die Berichte immer schlimmer wurden, sandten sie einen zweiten Legatus mit einer Truppe Soldaten ins Gevaudan, um Antoine und den Comte im Geheimen zu untersuchen. Außerdem steht hier, dass der Comte abgereist und nach Rom gegangen ist.« Gregoria sah ihn an. »Das und der Eintrag über dich sind die neuesten Aufzeichnungen.« Sie verschwieg ihm, dass auch Florence in dem Bericht erwähnt wurde.
»Danach hast du ihnen ja auch den Atlas gestohlen«, meinte er. »Deine Tapferkeit wurde belohnt, Gregoria.« Sein Gesicht wurde ernst. »Wir suchen uns eine Bleibe, in der wir sicherer sind als in unseren bisherigen Unterkünften.«
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich muss warten, bis sie Lentolo zu mir …«
»Es ist zu gefährlich. Sie wissen inzwischen sicher, dass ihnen der Atlas gestohlen wurde – was liegt näher, als dich zu verdächtigen? Und sie werden sicherlich versuchen, ihr Eigentum zurückzubekommen«, fiel ihr Jean ins Wort. Er sah auf die vielen dünnen Blätter. »Wie lange brauchst du, um sie für mich zu übersetzen?«
»Schwierig. Ein paar Wochen, wenn ich die entsprechende Ruhe habe.«
Jean überlegte. »Wir machen es so: Wir suchen uns heute noch eine Unterkunft, du machst dich ans Übersetzen und ich finde diesen Bruder Matteo, um ihn über unseren Umzug zu informieren.« Er sah auf ihre Kleidung. »Du wirst sie ablegen und dich anders kleiden müssen. Wirke mehr wie eine Römerin, trage buntere Kleider. Das ist zu auffällig, sie werden dich mit deinem schwarzen Kopftuch
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