Sanctum
tollwütigen Hund für den Angriff verantwortlich machen, weil sie es nicht besser wussten. Er wünschte, es wäre wirklich ein tollwütiger Hund gewesen.
Er ging in die Hocke und betrachtete die gezackten Wundränder; in den Löchern hatte sich das Blut gestaut und war teilweise über das helle Fleisch des Mädchens gelaufen. Der Comte war vor ihm hier gewesen und hatte seine Schulden anscheinend anders beglichen, als es sich die Betreiber des Etablissements gedacht hatten.
Jean suchte weiter. Insgesamt zählte er elf Leichen, die mit zerrissenen Kehlen und Körpern in verschiedenen Zimmern lagen. Der Zeitpunkt des Todes musste in der vergangenen Nacht liegen, denn die Leichen waren kalt und das Blut haftete schwarzrot und zäh an ihnen.
Der erschreckendste Anblick bot sich ihm im Spielzimmer. Verloschene Zigarren lagen auf dem Boden und hatten vor dem Erlöschen tiefe Brandlöcher hinterlassen, dazu mischten sich Weinflecken, die Splitter zerborstener Gläser, die bei der Attacke des Werwolfs und dem Kampf vom Tisch gefegt worden waren. Der Comte hatte gewütet und sich nicht damit begnügt, die drei Männer und eine Frau zu töten, nein, er hatte die Gliedmaßen abgetrennt und sie verstreut. Köpfe, Arme, Beine, Rümpfe …
Jean wurde schlecht, und er eilte hinaus, würgte und hielt sich die Hand vor den Mund. Der Comte ging hier in Rom noch brutaler vor als zusammen mit Antoine im Gevaudan, als würde er mit der alten Stadt und seiner Vergangenheit aufräumen wollen, als wollte er seinen Hass austoben und an allen auslassen, mit denen er jemals zu tun gehabt hatte.
Sein Blick fiel auf die abgetrennte Männerhand, die auf der Schwelle lag. Zwischen den starren Fingern haftete ein Stück Fell.
Schwarzes, katzenähnliches Fell.
Jean kniete sich neben die Hand, entriss ihr das Büschel und rieb es zwischen den Fingern unter der Nase hin und her. Die Farbe passte nicht zur Bestie und auch das Fell roch nicht danach, nicht nach Wolf oder etwas Ähnlichem.
Mit einem Schlag hatte sich die Situation verändert. Dieses Massaker ging nicht zu Lasten des Comtes – ein zweites Wesen hatte das Blutbad angerichtet.
»Verdammt!«
Er steckte das schwarze Fellstück ein und verließ das Haus durch ein Seitenfenster, um nicht beim Verlassen des Gebäudes gesehen zu werden.
Auf dem Weg zurück zur Unterkunft machte Jean sich Gedanken. Was hatte der alte Marquis gesagt? Eine Sache zu Ende bringen … Mit dieser Bemerkung hatte sich sein Sohn nach Rom verabschiedet. Der junge Comte war also hierher gekommen, um sich ein Wandelwesen vorzunehmen, das seinen Hass heraufbeschworen hatte. Das andere Wandelwesen nahm die Herausforderung offensichtlich an und hatte nun den Ort überfallen, an dem sich der Comte wie zu Hause fühlte.
Aber aus diesem Krieg der Bestien würde nur einer als Sieger hervorgehen: er, Jean Chastel.
Der Jäger war so in seinen Überlegungen versunken, dass er völlig vergaß, darauf zu achten, ob ihm jemand folgte.
IX.
KAPITEL
Italien, Rom, 27. November 2004, 23.41 Uhr
Severina eilte den Korridor des Hotels entlang zu ihrem Zimmer. Eric hatte sich per SMS bei ihr gemeldet und wissen wollen, wo sie abgestiegen war. Auf ihre Antwort hin war keine Reaktion mehr erfolgt. Sehr merkwürdig.
Sie schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf, ging hinein und wollte sie gerade ins Schloss ziehen, als sich eine Gestalt von der anderen Seite dagegenwarf.
Mit einem Aufschrei wurde Severina in das dunkle Zimmer geschleudert, sie prallte auf den Boden und verlor ihre Handtasche. Das Licht ging an, und vor ihr stand – Eric!
»Was …?« Sie strich sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht und musterte ihn. Er sah … bedrohlich aus. Eric trug ein schmutziges Durcheinander verschiedener Kleidungsstücke. Die tiefen Ringe unter seinen Augen verrieten, dass er lange keinen Schlaf bekommen hatte. Doch was Severina wirklich erschreckte, war die ungeheure Wildheit und Brutalität, die sich in seinen Zügen widerspiegelte.
»Eric …? Was ist los?«
»Sind Sie allein?«, fragte er gehetzt und schaute durch den Türspion. Der Gang war leer. »Darf ich reinkommen?«
»Du bist schon drin. Was ist denn mit dir?«, fragte sie besorgt. »Und wo ist deine …«
Er wirbelte herum und stieß einen merkwürdigen knurrenden Laut aus. »Wir haben keine Zeit.«
Eric eilte zu den Fenstern und riss die Vorhänge zu. Die Wolken über Rom verhinderten im Moment noch, dass ihn der kalte Glanz des Mondes traf und vollständig in
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