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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
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Zeichen, einer von hundert Pfaden, die zu dem
unsichtbaren, nicht zu ertastenden Ziel führten.
    Lange hatte
er auf das Kind vertraut, auf die »Fortsetzung des Lebens«, auf das große
Schlagwort von der
»Fruchtbarkeit«, doch einige Jahre nach der Geburt ihrer Tochter mußte er sich
eingestehen, daß es ihnen keine Hilfe war, Anna und er lebten weiter in der
gleichen Ungeduld und Anspannung wie vor der Geburt des Mädchens.
    Er warf
Geld auf den Tisch und erhob sich.
    Die Sonne
prangte noch als scharfes Licht, doch bereits kalt und wie in Erz gegossen über
dem Berg; mit der gallertartigen Steifheit der aus dem Schmelztiegel von
Häusern und Gegenständen, aus der heißen Tageszeit stammenden Masse gewann sie
in der kalten Helligkeit festere Konturen. Vom Meer her erhob sich ein Wind und
wirbelte den Straßenstaub auf. Askenasi ging an dem Polizisten vorbei, blickte
ihm dabei streng ins Gesicht, der beleibte Mann hielt dem Blick des Fremden
nicht stand, wandte sich verlegen, widerwillig ab und trat einige Schritte zur
Seite. Herausfordernd verharrte Askenasi an der Straßenecke und blickte ihm fragend
hinterher. »Was hütest du«, fragte er still, ohne den Mund zu bewegen, »die
Ordnung ...? Hat man dir nicht gesagt, daß die ›Ordnung‹ nur die eine Seite ist
...? Die Ordnung, der Zusammenhang, das ist das eine Ufer, vielleicht die
Tagseite; aber was fängst du mit der anderen an, der Nacht, die zu ihr gehört
und sich aus ihr ergibt, ohne die es kein Leben gibt und in der sich alles
auflöst, was der Tag zusammengefügt und erbaut hat ...?«
    Er blickte
um sich. Die Häuser, dachte er mit Bedauern und zuckte die Achseln. Es schien
ihm, daß die Häuser mit einer Art unbeholfener Beharrlichkeit
und Festigkeit kleinmütig an ihrem Platz standen; hinter den Fenstern trug man
Gegenstände hierhin und dorthin, es wurde zum Abendessen gedeckt. Als begänne
man in den Kabinen eines sinkenden Schiffes sorgfältig die Betten zu machen
..., dachte er. Als er bei der Kirche vorbeikam, trat er ein.
    Im dunklen
Seitenschiff entzündete eine Frau mit Kopftuch vor dem Bild des Heiligen von Padua
eine Kerze. So billig ist das nicht zu haben, dachte Askenasi im Vorbeigehen
kalt. Er blieb stehen und faltete mechanisch die Hände. Der Dämmer der Kirche
wurde von der Kerzenflamme kaum angeritzt; hinter dem Altar sickerte durch eine
halboffene niedrige Tür die Helligkeit des Klosterhofs; von den uralten Mauern
rieselte künstliche, feuchtkalte Dunkelheit. Er ging auf das Licht zu, vor dem
Hauptaltar blieb er stehen, fast wie aus Höflichkeit. Unwillkürlich machte
seine Hand das Kreuzzeichen, wie man auf der Straße unsicher, aber doch ganz
automatisch den Hut lüftet, wenn man einem sehr vornehmen Bekannten begegnet
und nicht genau weiß, ob ihm der Gruß angenehm ist. Drei samtüberzogene Stufen
führten zum Altar hinauf, dessen Mittelteil die Pietà (»schwache
toskanische Schule«, blitzte der wichtigtuerische alte Askenasi in ihm auf)
eines unbekannten Meisters zeigte: Rechts die Römer mit ihren Lanzen,
professionell gleichmütige Soldaten, zur Linken die händeringenden Frauen, in
der Mitte, mit vor Schmerz bereits starrem und apathischem
Gesicht, die Mutter, einen Arm um den verunstalteten nackten Männerkörper
legend. Ja, ja, dachte Askenasi wie beim Anblick von etwas sehr Peinlichem,
wenn man aus Anstand nicht näherzutreten wagt, sondern teilnahmsvoll die Augen
niederschlägt und den Kopf senkt, obwohl man am liebsten protestieren und
schreien würde.
    Und ob,
selbstverständlich, dachte er und kniete schnell und bereitwillig nieder.
Vorsichtig und schamhaft hob er die Augen und musterte den auch in seinem
gepeinigten Zustand idealisierten Körper, den nichts als ein schmaler
Lendenschurz bedeckte. »Askenasi«, sagte er dann leise, vertraulich. Er sah
sich um. Die Frau, die soeben mit der Kerze dem Heiligenbild des Seitenaltars
gehuldigt hatte, schritt nun auf die ovale Vertiefung des Ausgangs zu, auf der
Schwelle wandte sie sich noch um, kniete nieder, bekreuzigte sich mehrmals und
verließ die Kirche.
    »Viktor
Henrik Askenasi«, wiederholte
er immer noch befangen, etwas lauter, jetzt, da er allein war. »Wohnhaft in
Paris. Achtundvierzig Jahre alt. Römisch-katholisch. Lehrer für griechische
Literatur und kleinasiatische Sprachen an der Universität. Verheiratet. Vater
eines Kindes.« Dann flüsterte er hinterlistig, duckmäuserisch aufblickend,
in scheinheiligem Ton: »Herr, erbarme dich

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