Sanft sollst du brennen
Irgendwo in diesem Berg von Unterlagen werden wir die Antwort finden.«
»Ich mache mir keine Sorgen«, erklärte Isabel. »Selbst wenn kein Geld da ist, fällt Kate schon etwas ein.«
»Warum gerade mir?«
»Weil Kiera noch nicht mit dem Medizinstudium fertig ist und gar nicht nach Hause kommen kann. Und ich gehe in einer Woche aufs College, also bleibst nur noch du. Außerdem seid ihr beiden, Kiera und du, die Intelligenzbestien in der Familie. Wisst ihr was? Ich habe immer geglaubt, ich sei dumm, weil ich nie eine Klasse übersprungen oder die höchste Punktzahl bei einer Klausur erreicht habe, aber Mom hat mir gesagt, ich sei einfach nur normal. Ja, normal«, wiederholte sie und zeigte mit ihrer Selleriestange auf Kate. »Ihr seid die Irren. Ich will ja eure Gefühle nicht verletzen, aber ihr seid beide irgendwie … Freaks.«
Kate lachte. »So hat Mom uns aber nie genannt.«
Isabel runzelte die Stirn. »Aber als normal hat sie euch auch nicht bezeichnet. Kate, was machst du da?«
»Wonach sieht es denn aus? Ich öffne die Rechnungspakete, damit wir endlich anfangen können.«
»Jetzt nicht«, sagte Kiera. »Das hat Zeit bis nach dem Abendessen. Du siehst erschöpft aus. Leg dich doch einfach ein bisschen hin. Die Rechnungen laufen uns schon nicht weg.«
Kate widersprach nicht. Sie hatte immer noch leichte Kopfschmerzen, und außerdem wollte sie gerne duschen und sich umziehen.
Nach dem Duschen schlüpfte sie in Shorts und ein altes T-Shirt, legte sich aufs Bett und schlief sofort ein.
Sie erwachte von den Geräuschen, die aus der Küche zu ihr hinaufdrangen. Es duftete nach gebratenem Hühnchen und Apfelklößen.
»Kiera, heute Abend musst du mit Isabel die Küche aufräumen, sonst komme ich zu spät«, hörte sie ihre Tante sagen.
»Was hast du denn heute Abend vor?«, fragte Isabel.
»Ich muss zu meiner Gruppenbetreuung.«
Seit die Schwestern denken konnten, betreute Tante Nora irgendwelche Gruppen. Schon in St. Louis hatte sie das gemacht, und als sie nach Silver Springs gezogen war, war sie sofort einer Kirchengruppe beigetreten. Keines der Mädchen wusste, was sie eigentlich bei diesen Gruppen machte, aber sie fragten lieber nicht, um sich Tante Noras Vortrag über das Recht auf Privatsphäre zu ersparen.
Für sie galt dieses Recht allerdings nicht. Am liebsten hätte Tante Nora in jeder einzelnen Minute gewusst, wo sie gerade waren.
»Und was hast du heute Abend vor, Fräulein?«, fragte Nora Isabel.
»Ich singe im Pflegeheim«, antwortete Isabel.
»Du wirst den alten Leuten bestimmt fehlen, wenn du auf dem College bist.«
»Ich glaube, mir werden sie noch viel mehr fehlen«, antwortete Isabel. »Sie waren immer so lieb.«
»Weck mich, wenn du nach Hause kommst«, befahl Nora.
»Ich bin erwachsen, und ich glaube nicht, dass ich …«, protestierte Isabel, aber Nora unterbrach sie.
»Ich habe deiner Mutter versprochen, auf dich aufzupassen, und das tue ich auch. Du bist erst erwachsen, wenn du aufs College gehst.«
Kate hörte, wie sie die Hintertür aufmachte. »Ah, ich habe ganz vergessen, euch zu sagen, dass das Umzugsunternehmen das Datum geändert hat«, sagte Nora. »Sie kommen schon am Freitag. Ich hoffe doch, dass ihr mir beim Packen helft.«
»Natürlich helfen wir dir«, versprach Kiera.
»Heißt das, du bist am Freitag schon weg?«, fragte Isabel.
»Ja«, erwiderte Nora. »Aber glaubt bloß nicht, dass ihr mich für immer los seid. Ich werde mindestens so oft hierherkommen, wie ich meine Tochter daheim besucht habe. Ich lebe dann eben nur wieder da. Und jetzt genug geredet, ich komme zu spät. Wo ist meine Tasche?«
»An deinem Arm«, erwiderte Isabel.
Kate hörte, wie die Tür zuging. Sie stand auf, spritzte sich Wasser ins Gesicht und ging nach unten.
Nach dem Essen brach Isabel auf. Kiera musste noch zum Supermarkt, um Besorgungen zu machen, und Kate beschloss, sich die Unterlagen anzuschauen, die der Steuerberater geschickt hatte.
Sie begann mit einem großen Umschlag der Summit Bank & Trust. Sie hatte gar nicht gewusst, dass ihre Mutter mit der Summit etwas zu tun gehabt hatte. Ihr Girokonto hatte sie jedenfalls bei der Bank in Silver Springs gehabt. Aber vielleicht hatte das ja etwas mit der Pension zu tun. Im Umschlag waren mehrere Rechnungen, Kopien von Kreditunterlagen und ganz obenauf ein Brief von einem Mr Edward Wallace, der anscheinend den Kredit bearbeitet hatte.
Sie las den Brief und blickte auf die Unterlagen. »Nein«, flüsterte sie. »Das kann
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