Sanft wie der Abendwind
davon ab, dir etwas über sie zu erzählen.“
„Ich wünschte, du würdest es nicht tun. Bitte vergiss, dass ich sie überhaupt erwähnt habe.“
„Das kann ich nicht. Sie verdient es nicht, einfach so beiseitegeschoben zu werden, als hätte sie nie jemandem etwas bedeutet.“ Lily berührte flehend den Arm ihrer Schwester. „Sie war eine wunderbare Mutter: immer da, wenn ich aus der Schule nach Hause kam, immer daran interessiert, wie es mir tagsüber ergangen war. Ich durfte Freunde mitbringen, die ihr herzlich willkommen waren. Bei uns zu Hause ging es fröhlich zu, und es herrschte ein liebevoller Umgangston. Es tut mir weh, dass keiner von euch gut über meine Mutter denkt.“
Verunsichert zupfte Natalie an den Blumenstängeln. „Menschen sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen.“
„Oh, ich weiß! Warum, glaubst du, habe ich im Mai Kontakt mit Hugo aufgenommen? Weil es einen wichtigen Abschnitt im Leben meiner Mutter gibt, über den ich überhaupt nichts weiß. Ich muss die Lücken unbedingt füllen.“
„Siehst du denn nicht das Problem, das wir haben, Lily? Deine Eltern sind im September des vorigen Jahres verunglückt, du hast aber acht Monate gewartet, bevor du dich an Dad gewandt hast. Wenn es dir so wichtig ist, die Vergangenheit zu kennen, warum bist du dann nicht früher zu ihm gekommen?“
„Weil ich erst herausfand, dass er mein Vater ist, als ich Zugang zum Bankfach meiner Eltern bekam. Es hat Monate gedauert, bis das Testament anerkannt und die Hinterlassenschaft geregelt war. Und in dem Bankfach habe ich dann Hinweise auf Hugo gefunden.“
Lily atmete tief durch, als sie sich an den schicksalhaften Morgen erinnerte.
„Ich wusste, dass es nicht einfach für mich werden würde“, berichtete sie weiter. „Sich mit dem Geld und den Aktien zu befassen war nicht so schlimm, denn das ist nur bedrucktes Papier, das durch viele Hände gegangen ist. Als ich dann aber zu den persönlichen Wertsachen und Dokumenten kam …“
„Wenn es dir schwerfällt, darüber zu sprechen, brauchst du nicht weiterzureden, Lily.“
„Doch, ich muss! Ich möchte dir verständlich machen, warum ich unbedingt die ganze Wahrheit wissen will.“ Lily blinzelte, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. „An den Samtbeuteln, in denen der Schmuck meiner Mutter aufbewahrt wurde, haftete noch ein Hauch ihres Parfüms. Eins ihrer blonden Haare hatte sich in der Schließe einer Kette verfangen, in einem Medaillon fand ich ihr und Neils Bild. Ihre Unterschriften waren auf verschiedenen Dokumenten, der Besitzurkunde fürs Haus und Ähnlichem. Es war, als würden meine Mutter und mein Vater neben mir stehen und mir Mut zusprechen weiterzumachen. Ich spürte ihre Anwesenheit ganz deutlich! Es war … unheimlich.“
Lily presste sich kurz die Hand auf die bebenden Lippen.
„Dann fand ich zuunterst im Fach einen Umschlag, aus dessen Inhalt ich erfuhr, dass Neil gar nicht mein Vater war. Ich fühlte mich von den Menschen hintergangen, die ich am meisten geliebt hatte.“
„War in dem Umschlag ein Brief für dich?“, fragte Natalie mitfühlend.
Lily lachte erbittert. „Wenn es das nur gewesen wäre! Dann würde ich dir jetzt nicht mein Anliegen vortragen. Nein, da war nichts an mich persönlich Adressiertes. Ich entdeckte ein Hochzeitsfoto meiner Mutter, auf dem sie Arm in Arm mit einem Mann dasteht, der sichtlich älter war als sie. Inzwischen weiß ich, dass es sich um Hugo handelt. Auf der Rückseite des Fotos ist notiert: ‚Mr. und Mrs. Hugo Preston, Stentonbridge, Ontario‘. Und ein Datum, zwei Jahre vor meiner Geburt.“
„War das alles, was du gefunden hast?“
„Nein, ich fand meine Geburtsurkunde, auf der Hugo Preston als mein Vater angegeben ist, außerdem den Trauschein der Eheschließung meiner Mutter mit Neil, datiert aus der Zeit, als ich schon elf Monate alt war, und schließlich die Adoptionsunterlagen, die Neil als meinen gesetzlichen Vater ausweisen. Mehr nicht.“ Sie sah Natalie an. „Jetzt verstehst du bestimmt, wieso ich unbedingt mehr erfahren möchte: Ich kenne die nackten Tatsachen, aber ich weiß nicht, wie es zu allem gekommen ist.“
„Leider kann ich dir nicht helfen, so gern ich es tun würde“, erwiderte Natalie. „Ich kenne nur Bruchstücke, die ich hier und da aufgeschnappt habe. Außer Dad ist Sebastian der Einzige, an den du dich wenden kannst. Er kennt die ganze Geschichte.“
„Allerdings weigert er sich standhaft, mit mir darüber zu sprechen.“
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