Sanfte Eroberung
sie nicht entkommen konnte. Wenn eine Dame heiratete, galt sie vor dem Gesetz als Besitz ihres Ehemannes, mit dem er so grausam verfahren durfte, wie er wollte. Eine solche Macht würde Lily keinem Mann über sich gewähren.
Ebenso wenig würde sie ihr Herz verschenken, um Jemanden darauf herumtrampeln zu lassen, wie es ihre Mutter in ihrer ersten Ehe und Arabella bei ihrer ersten, kurzen Verlobung getan hatten.
Dem Himmel sei Dank, dass Arabella nun Glück und Liebe bei Marcus vergönnt waren. Denn Lily musste zugeben, dass ihre Schwester allem Anschein nach beides gefunden hatte, woran die zärtlichen Blicke und sanften Berührungen des jungen Paares keine Zweifel ließen. Und auch Lilys Mutter beteuerte, in der Ehe mit ihrem französischen Geliebten, Henri Vachel, endlich wahres Glück zu genießen.
Was Lily betraf, blieb eine Heirat ausgeschlossen, denn sie würde ihr mangelndes Vertrauen in die Männer wohl nie überwinden.
Und sie brauchte niemanden außer ihren Schwestern und ihren Freundinnen, um glücklich zu sein. Sie bestimmte selbst über ihr Leben, und so sollte es bleiben. Sie wusste, was sie sich von der Zukunft erhoffte, und das war nicht, an einen Ehemann gekettet zu sein, der sie verletzen und betrügen, seine Macht gegen sie benutzen und sie so elend machen konnte, dass sie Abend für Abend in ihr Kissen weinte, wie es ihre Mutter getan hatte.
Und nachdem sie im Besitz eines passablen Vermögens war, konnte Lily sich sogar einige langgehegte Träume erfüllen. Seit sie lesen konnte, vergrub sie sich in dicken Geschichtsbüchern, geologischen Kartenwerken und Expeditionsberichten. Teils hatte sie darin Zuflucht vor den Streitereien ihrer Eltern gesucht. Wie hatte sie sich nach dem Tag gesehnt, an dem sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen durfte! Sie wollte die Welt bereisen, unbekannte Länder erkunden und Abenteuer erleben.
Sollte sie eines Tages Kinder wollen, die sie lieben und verwöhnen konnte, würde sie es Arabella oder Roslyn überlassen, sie zu gebären. Lily selbst war zufrieden damit, an der Freemantle-Akademie für junge Damen zu unterrichten, wo sie heranwachsenden Mädchen beibrachte, wie sie als Kaufmannstöchter niederer Herkunft in den feinen Kreisen bestanden.
Über den Sommer hatte sie nur wenige Pflichten an der Akademie, waren die meisten Schülerinnen doch zu ihren Familien gefahren. Somit war der Zeitpunkt für eine Reise nach London ideal, und das in mehr als einer Hinsicht.
Besonders froh war sie, Lord Claybournes unerwünschter Aufmerksamkeit zu entfliehen. Zudem würde es ihr höchste Befriedigung bereiten, könnte sie Fannys Freundinnen helfen, ihre finanziellen Probleme zu lösen.
Vor allem aber empfand Lily ein freudiges Kribbeln bei dem Gedanken, ein brandneues Lebenskapitel aufzuschlagen. Nachdem die Hochzeitsfeierlichkeiten vorbei waren, stand ihr der Weg zu großen Abenteuern frei.
Als Tess nach Danvers Hall zurückkehrte, wo sie sich zu Lily gesellte, hatte diese bereits eine Nachricht an Fanny geschrieben, die ein Bote nach London bringen würde, und beinahe fertig gepackt.
»Dem Himmel sei Dank, dass Roslyn den entsetzlichen Überfall recht gut überstanden hat! «, seufzte Tess, die sich in einen Sessel setzte. »Wie sie sagt, planst du einen Ausflug nach London. «
»Ja«, antwortete Lily, die ein paar letzte Stücke für den längeren Aufenthalt aus dem Kleiderschrank suchte. »Ich reise heute Nachmittag ab. «
»Mir erscheint es überzogen, von zu Hause zu fliehen, um Lord Claybourne auszuweichen.«
»Ganz und gar nicht. Allerdings habe ich noch einen anderen sehr guten Grund. Fanny hat finanzielle Schwierigkeiten.«
»Was für Schwierigkeiten?«
»Es handelt sich um Spielschulden, wenn auch nicht Fannys. Im letzten Frühjahr haben zwei ihrer ältesten Kurtisanenfreundinnen eine beträchtliche Summe am Faro-Tisch verloren, und der Besitzer des Spielclubs fordert nun, dass die Schulden beglichen werden. Fanny muss folglich alles tun, um ihre Freundinnen vor dem Schuldnergefängnis oder Schlimmerem zu bewahren. «
»Sprichst du von Fleur und Chantel?«
»Ja. Sie nahmen Fanny unter ihre Fittiche, als sie vor acht Jahren nach London kam, also will sie ihnen unbedingt beistehen.« Lily sah sich zu Tess um. »Ich wollte die Sache Roslyn gegenüber nicht erwähnen, weil sie sich sonst verpflichtet fühlen würde zu helfen, und nach all ihrer Arbeit braucht sie dringend Ruhe. Ich hoffe, dass ich etwas für Fanny tun kann. «
Tess wirkte
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