Sanfter Mond über Usambara
öffnete erst einmal die Rechnungen, prüfte sie genau und trennte sie in zwei Stapel. Ettjes Schreiben enthielt tatsächlich eine schlimme Nachricht, Pastor Harm Kramer– Mennas und Maries Vater– war überraschend an einem Schlaganfall gestorben. Charlotte war zwar betroffen, aber ihr Kummer hielt sich in Grenzen. Die Großmutter hatte sich wieder aufgerafft, humpelte im Haus umher und schien Antje nach wie vor das Leben schwer zu machen.
Während Klara immer noch Peters Finger kühlte und Johannes Kigobo schon wieder einige vorsichtige Hammerschläge tat, riss Charlotte Georges Brief auf. Zum Vorschein kam ein dicker Packen eng beschriebener Seiten, versehen mit Aufstellungen und Zeichnungen und sorgfältig nummeriert. Der Brief an sie schien mit hastiger Feder geschrieben, die Buchstaben weit auseinandergezogen und unregelmäßig, so als habe er das Papier dabei auf den Knien gehalten.
Meine geliebte Charlotte,
lange hatte ich keine Gelegenheit, diese Post an Dich abzusenden, nun hoffe ich, dass meine Aufzeichnungen, die ich nicht einmal kopiert habe, sicher bei Dir ankommen werden. Wir haben aufregende Erlebnisse hinter uns, auch einige kleine Unfälle, die zum Glück glimpflich verlaufen sind. Das Klima in Ruanda ist dem im Usambara-Gebirge nicht unähnlich, die Malaria ist hier nahezu unbekannt, wie ich durch Blutuntersuchungen an den Eingeborenen feststellen konnte…
Er schien ganz und gar von seinen Erlebnissen erfüllt zu sein. Ausführlich berichtete er über das Zusammentreffen mit dem Watussi-Sultan Msinga, dem mächtigsten Mann in Ruanda. Die deutsche Kolonialregierung war zwar nominell Eigentümerin des Landes, ließ den Sultan jedoch schalten und walten, ohne sich in seine Regierung einzumischen. Aus gutem Grund– er herrschte über etwa eineinhalb Millionen Menschen, darunter eine große Zahl hervorragender Krieger, mit denen sich die deutschen Schutztruppen lieber nicht anlegen wollten. Dieser Sultan war vor seinen Gästen mit großem Pomp erschienen, ließ sich in einer Bastmatte tragen und beschenkte seine Gäste mit gewaltigen Herden von Rindern, Ziegen und Schafen.
Die Watussi ähneln äußerlich den Massai, sie sind hochgewachsen und sehr schlank. Ihre Gesichter sind schmal, die Augen groß– es handelt sich um ungewöhnlich schöne Menschen. Doch man sollte sich nicht täuschen lassen– diese edlen Krieger haben die Ureinwohner des Landes, die Wahutu, vor Jahren grausam unterjocht. Ich selbst wurde Zeuge einer unangenehmen Szene, als man bei der Ankunft des Sultans die neugierigen Wahutu wie Leibeigene mit Stockschlägen beiseitetrieb. Die Wahutu sind Bauern– gegen das Hirten-und Kriegervolk der Watussi sind sie machtlos. Großartig war in diesem Zusammenhang der Einfall unseres Herzogs, dem Watussi-Sultan als Gastgeschenk ausgerechnet eine Jagdbüchse samt Patronentasche zu verehren…
Enttäuschung erfasste sie, als sie auch die folgenden Zeilen überflog. Hatte er ihr nichts weiter mitzuteilen als die ethnologischen Erkenntnisse, die er in Ruanda gewonnen hatte? Das hätte sie auch in seinen Manuskripten nachlesen können. Sie wendete die Seite um und stellte fest, dass Georges Schrift immer nachlässiger wurde. Hatte er bei schlechtem Licht geschrieben, so dass er seine eigenen Buchstaben auf dem weißen Papier kaum noch hatte erkennen können? Aha, wenigstens die letzten Zeilen schienen ein paar zärtliche Worte zu enthalten.
Ich denke oft an Dich, meine süße Frau, und auch an unsere kleine Elisabeth. Wird sie mich vielleicht sogar vergessen haben, wenn ich bärtig und von der Sonne verbrannt zu Euch zurückkehre? Und Du? Was wirst Du zu dem ausgezehrten, erschöpften Burschen sagen, der in der Missionsstation erscheinen wird und behauptet, Dein Ehemann zu sein? Ich sitze an den Abenden oft vor dem Zelt und sehe in den Sternenhimmel. Ist es wirklich schon zwei Jahre her, dass sich die gleiche Lichterkuppel über uns beiden wölbte, als wir neben dem Tamarindenbaum beieinanderlagen?
Nur noch einige Wochen, dann haben wir uns wieder, Du meine große, meine einzige Liebe.
George
Nur noch einige Wochen, dachte sie bitter. Er weiß selbst, dass die Expedition weitaus länger dauern wird, und er genießt sie in vollen Zügen.
» Frau Johanssen? Geruhen Sie anzusehen, was ich Ihnen ergebenst zu Füßen lege? «
Jeremys fröhlich-ironische Anrede riss sie aus ihrer Trübsal. Sie hob den Blick von Georges Brief und erstarrte vor Entsetzen.
» Gefällt er Ihnen? Ein kapitaler
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