Sankya
Ordnung« gibt es nicht.
»Aha, da sind sie!« Sascha merkte plötzlich, dass er sich sehr freute, Wenja, der mit seiner nicht abgeheilten Nase noch immer schniefte, und den langen Ljoschka zu sehen. Er umarmte sie beide.
Man muss jetzt etwas unternehmen, die Jungs irgendwo unterbringen.
Sascha traute sich nicht, Bekannte von zu Hause aus anzurufen – das Telefon wurde abgehört, so hatte er schon einmal eine Aktion der Partei vergeigt.
Und er hatte auch keine Bekannten, bei denen sie zu dritt hätten übernachten können.
»Und nicht einmal ich allein«, dachte Sascha plötzlich verwundert, ohne dass es ihn traurig machte.
Es hatte sich in den letzten Jahren so ergeben, dass sich Saschas Gesprächspartner auf die Parteigenossen beschränkten. Nicht, dass er für andere Freundschaften keine Zeit hatte, obwohl, nein, er hatte keine Zeit, aber das Wichtigste war, dass er sie schon nicht mehr brauchte, warum auch, es war nicht interessant.
Es würde sich auch nicht lohnen, in die Wohnungen lokaler »Sojusniki« zu gehen – und zwar aus ganz offensichtlichen Gründen: Jederzeit könnten welche in Zivil hereinplatzen.
Auf der Straße begann es zu nieseln – dennoch verließen sie das verrauchte Café mit der lästigen Musik und den unverschämten Preisen und marschierten fröhlich hinaus – schwelgten in Erinnerungen und übertrumpften einander damit, was in Moskau nicht alles geschehen war …
Negativ hörte interessiert zu, manchmal blickte er dem, der gerade sprach, aufmerksam ins Gesicht.
Sie blieben an einem Kiosk stehen, Sascha kaufte eine Flasche Wodka und drei Plastikbecher – Negativ trank nicht, weil ihn der Alkohol immer zum Tier werden ließ.
Rogow erhob keinen Protest gegen den Kauf, Wenja zeigte sich erfreut.
Sie gingen auf einen Kinderspielplatz, auf dem Sascha in seiner frühen Jugend viele Stunden verbracht und unterschiedlich starken Alkohol ausprobiert hatte, um seine mehr oder auch weniger gefügigen Altersgenossinnen genauer zu untersuchen.
Sie setzten sich auf ein Spielzeughäuschen, Sascha holte Käse und Brot aus der Tasche.
»Nur ein Messer haben wir keins«, sagte er und drehte eine Konservenbüchse in der Hand.
Rogow zog schweigend ein Federmesser aus dem Rucksack. Geschickt öffnete er die Büchse.
Sie schenkten ein, stießen an …
Bald fühlten sie sich wohl, nur die Arschbacken wurden auf der feuchten Bank kalt. Sascha stand immer wieder auf und ging herum, Rogow legte sich den Rucksack unter, Wenja war es offenbar egal.
Negativ setzte sich nicht, er hörte zu. Er nahm ein Stück Käserinde, nagte immer wieder ein kleines Stück davon ab und kaute langsam.
»Da, nimm.« Sascha gab ihm ein Stück Käse.
Negativ nahm es. Er wartete, bis alle das Gespräch fortsetzten und legte es dann unbemerkt zurück.
»Wie viele haben sie genau geschnappt, weiß das jemand?«, fragte Sascha.
»Dreiundneunzig Personen, hieß es in den Nachrichten«, antwortete Negativ, allerdings erst, nachdem Wenja und Rogow mit den Schultern gezuckt hatten. Negativ beeilte sich nie, als Erster zu antworten.
»Was wird ihnen vorgeworfen?«
»Fast alle haben administrative Strafen bekommen. Je fünfzehn Tage.«
»Was sind sie denn so … gnädig …«, wunderte sich Wenja, der das Wort »gnädig« von irgendwo hergeholt hatte, ein Wort, das ganz und gar nicht zu seinem Wortschatz passte.
»Kannst du dir vorstellen, was für ein Prozess das gegen dreiundneunzig Personen sein soll? Die ganze Welt wird das erfahren. Das brauchen die doch nicht einmal im Arsch …«, meinte Sascha.
»Trotzdem werden sie zur Abschreckung fünf einsperren«, sagte Rogow.
Im »Sojus« wunderte man sich schon lange nicht mehr über neue Knastgänger – mehr als vierzig Personen waren schon erwischt worden und saßen hinter Gittern. Diese Liste wurde nie kürzer, kamen die einen raus, saßen andere ein. Bezeichnenderweise waren fast alle Häftlinge »Terroristen mit Samtpfoten« – sie hatten Eier geworfen, oder bekannte und unangenehme Personen mit Mayonnaise überschüttet. Trotzdem bekam man für ein beschädigtes Sakko einige Monate, vielleicht sogar ein Jahr Gefängnis.
Die einzig echte Strafe hatte ein Kerl aus der Ukraine erhalten, der sich mit Expropriation beschäftigt hatte und zehn Jahre verschärftes Lager bekam.
Sie schwiegen einen Augenblick, bedauerten die Jungs, zumindest Sascha wusste genau, dass sie ihm leid taten, auch bei Ljoschka und Rogow war eine Portion Bruderliebe und Mitleid zu
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