Sanssouci
Grigorijs Mund und sammelte sich zu Fäden, er tobte … aber seltsamerweise in fast völliger Lautlosigkeit, nur ein leises Wimmern drang aus ihm. Er war nun nicht mehr ansprechbar. Mit der Zeit verfiel der völlig verzweifelte Bulgare in eine Art Gebet, er kniete vor dem Bett (dort war er in seinem Anfall hingefallen), hatte die Hände gefaltet und lag mit seinem Oberkörper halb auf der Matratze, wobei ihm Tränen aus den Augen liefen und er immer wieder die Worte lieber Gott, lieber Gott, mein lieber Gott wiederholte. So klang sein Gebet, es war das Gebet eines Verzweifelten. Alexej legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er war durch Grigorijs Zusammenbruch selbst fast besinnungslos geworden. Komm auf den Kapellenberg, hörst du, Grigorij! Bitte versprich es mir! Grigorij schien, während er heulte und seinen lieben Gott anrief, ein wenig zu nicken. Er heulte unverdrossen weiter. Alexej blieb hilflos vor seinem ehemaligen Kollegen stehen. Nach einigen Minuten nahm er seine Tasche wieder an sich und verließ das Haus.
Oststadt (Fortsetzung)
Zum Wesen des öffentlichen Gesprächs gehört, daß es nie abreißt. Das eine oder das andere Thema (die eine oder andere Person) kann zwar für eine Weile aus den Schlagzeilen verschwinden, führt aber ein Untergrundleben weiter, in diesem Raum, in jener Redaktion, in jener Wirtschaft … So kann einer wie Max Hornung wochenlang aus den öffentlichen Blättern und dem Fernsehen verschwunden sein, und doch taucht er nach einiger Zeit wieder aus dem Untergrund auf, weil das Gespräch über ihn so kulminiert, daß es mit aller Gewalt die Oberfläche durchstößt, wie Moby Dick im letzten Kapitel des gleichnamigen Buches. Oberbürgermeister Friedrichsen gehörte zu den klügeren Personen in der Stadt, aber auch er war gegenüber den stadtinternen Prozessen machtlos. Daher hatte er sich das Dasein eines Moderators angewöhnt, der zu den Dingen zwar seine Ansicht hat, sie aber nicht äußert, und wenn doch, dann nur in vertraulichen Zirkeln.
Heute sollte ein solcher Zirkel zusammenkommen. Ins Büro des OB waren die Kulturdezernentin Dorothee Kupski bestellt, der Kulturamtsleiter Meckel, der Magistratsvorsitzende Streubel und Dr. Christoph Mai, dem die Stadt unter Federführung Meckels inzwischen einen Kuratorenvertrag angeboten hatte. Friedrichsen wollte sich ein Bild von der allgemeinen Stimmung um Hornung verschaffen. Und er wollte Herrn Dr. Mai etwas näher kennenlernen.
Mit seiner Kulturdezernentin hatte Friedrichsen keineschlechten Erfahrungen gemacht. Sie konnte hart verhandeln, war loyal, hatte eine gut eingefädelte Parteikarriere hinter sich, redete allerdings manchmal ein bißchen viel und hatte etwas unangenehm Sozialromantisches an sich. Sie sprach dauernd von Minderheiten und Ausgegrenzten, obgleich das mit ihrem Ressort nichts zu tun hatte. Dorothee Kupski konnte sich in äußerst pathetischer Weise um Einzelschicksale kümmern, das machte sie in erster Linie wegen des Presseechos, es schien sie aber auch persönlich zu befriedigen. Die Frau war alleinstehend und trat mit einer gewissen Härte auf, die Friedrichsen an seine alte Religionslehrerin im Oldenburger Land, seiner Heimat, erinnerte. In Oststadt hieß die Kupski Liebermann und lebte mit einer Freundin zusammen.
Friedrichsen zog es schon seit einem Jahr vor, die Serie nicht mehr zu schauen und auch nicht mehr über sie informiert zu werden. Seinen Namen hatte er vergessen.
Zu Meckel hatte Friedrichsen eine klare Ansicht. Meckel war ein kompletter Vollidiot, der an keinem Tag verstand, was er zu tun hatte, und über nichts angemessen referieren konnte. Durch kaum einen Menschen hatte Friedrichsen mehr Mißverständnisse entstehen sehen als durch seinen jetzigen Kulturamtsleiter. Meckel war einer der Hauptschuldigen an dem Vertrag, den die Stadt mit Hornung geschlossen hatte und der dazu führte, daß die Stadt die Serie bis heute mitfinanzieren mußte. Er galt als ständiges Betriebsrisiko. Andererseits stellte Meckel eine Idealbesetzung nicht nur für sein gegenwärtiges, sondern für jedwedes Amt dar, insofern er völlig unfähig war,eigene Positionen zu entwickeln. Er erinnerte Friedrichsen an einen alten, blinden, unbeholfenen Schoßhund. In Oststadt kam Meckel nicht vor, das galt in eingeschworenen Kreisen als Höchststrafe.
Der Magistratsvorsitzende Streubel war jemand, der immer ordnungsgemäß und verläßlich arbeitete, jovial und herzenswarm wirkte, aber zugleich hinterrücks eiskalt Dinge
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