Sara Linton 01 - Tote Augen
war es nicht mehr so einfach, alles unter den Teppich zu kehren. Irgendein Ladenbesitzer wurde stinksauer und stellte Strafanzeige wegen des Ladendiebstahls. Der alte Bulle besucht die Familie, um ihnen weiterzuhelfen, und sieht, dass da was nicht stimmt. Das Mädchen hat Probleme in der Schule, Probleme zu Hause. Die Kleine erzählt ihm, dass sie missbraucht wird.«
» Wurde der Sozialdienst alarmiert?«
» Ja, aber die kleine Pauline verschwand, bevor sie mit ihr reden konnten.«
» Erinnert sich der Kollege noch an die Namen? Eltern? Sonst irgendwas?«
Leo schüttelte den Kopf. » Nichts. Nur Pauline Seward.« Er schnippte mit den Fingern. » Er erzählte allerdings was von einem Bruder, der nicht ganz richtig im Kopf war, wenn ihr wisst, was ich meine. Einfach ein komischer, kleiner Scheißer.«
» Wie komisch?«
» Sonderbar eben. Ihr wisst doch, wie das ist. Man kriegt da ein Gespür dafür.«
Will musste noch einmal fragen: » Der Kollege erinnert sich nicht an seinen Namen?«
» Alle Unterlagen sind unter Verschluss, weil sie minderjährig war. Dazu das Familiengericht, das ist noch eine Hürde«, sagte Leo. » Ihr braucht schon einen Gerichtsbeschluss in Michigan, um die geöffnet zu bekommen. Das war vor zwanzig Jahren. Vor zehn Jahren gab’s da so ein Feuer im Archiv, sagt der alte Knabe. Gibt vielleicht gar keine Akte mehr, in die man schauen kann.«
» Genau vor zwanzig Jahren?«, fragte Faith.
Leo warf ihr einen Seitenblick zu. » Jetzt an Ostern zwanzig Jahre.«
Will wollte es genau wissen. » Pauline McGhee oder Seward verschwand an diesem Sonntag, dem Ostersonntag, vor zwanzig Jahren?«
» Nein«, sagte Leo, » vor zwanzig Jahren war Ostern im März.«
Faith fragte: » Hast du das nachgeschlagen?«
Leo zuckte die Achseln. » Es ist immer der Sonntag nach dem Vollmond, der auf die Frühlingstagundnachtgleiche folgt.«
Will brauchte eine Weile, um zu merken, dass Leo tatsächlich seine Sprache sprach. Für ihn war es, als würde eine Katze bellen. » Sind Sie sicher?«
» Halten Sie mich wirklich für so blöd?«, fragte er. » Scheiße, ich will keine Antwort auf diese Frage. Der alte Knabe war sich ganz sicher. Pauline verschwand am sechsundzwanzigsten März. Dem Ostersonntag.«
Will versuchte nachzurechnen, aber Faith war schneller. » Vor zwei Wochen. Das könnte in etwa die Zeit sein, in der Sara und Anna wahrscheinlich entführt wurden.« Ihr Handy klingelte schon wieder. » O Mann«, zischte sie, als sie die Anruferkennung sah. Sie klappte das Gerät auf. » Was wollen Sie?«
Faiths Gesichtsausdruck sprang von extremer Verärgerung zu Schock und dann zu Ungläubigkeit. » O mein Gott.« Ihre Hand schnellte an die Brust.
Will konnte nur an Jeremy, Faiths Sohn, denken.
» Wie ist die Adresse?« Vor Überraschung blieb ihr der Mund offen. » Beeston Place.«
Will sagte: » Das ist doch, wo Angie …«
» Wir sind sofort da.« Faith klappte das Handy zu. » Das war Sara. Anna ist aufgewacht. Sie redet.«
» Was hat sie über Beeston Place gesagt?«
» Dass sie dort lebt – dass sie dort leben. Anna hat ein sechs Monate altes Baby, Will. Zum letzten Mal hat sie ihn in ihrem Penthouse in Twenty-one Beeston Place gesehen.«
Will war hinters Lenkrad gesprungen, hatte den Sitz zurückgerammt und war losgebraust, bevor Faith die Tür schließen konnte. Er hatte die Gänge geprügelt, den Mini in jede Kurve gejagt und war über die Metallplatten geholpert, die Baugruben bedeckten. Auf der Piedmont war er über die Mittellinie gefahren und hatte die Gegenfahrbahn benutzt, um an einer Ampel den Verkehr zu überholen. Faith hatte stumm neben ihm gesessen und sich am Griff über der Tür festgehalten, aber Will sah, dass sie bei jedem Sprung und in jeder Kurve die Zähne zusammenbiss.
Faith sagte: » Erzählen Sie mir noch einmal, was sie gesagt hat.«
Will wollte im Augenblick nicht über Angie nachdenken, schon gar nicht darüber, dass sie vielleicht gewusst hatte, dass ein Kind beteiligt war, ein Baby, dessen Mutter verschleppt worden war, ein Kind, das allein in einem Penthouse zurückgelassen worden war, aus dem man eine Drogenhöhle gemacht hatte.
» Drogen«, sagte er. » Das ist alles, was sie gesagt hat – dass es als Drogenhöhle benutzt wird.«
Sie schwieg, als er herunterschaltete und in weitem Bogen auf die Peachtree einbog. Der Verkehr war schwach für diese Tageszeit, was bedeutete, dass sich die Autos nur eine Viertelmeile stauten. Wieder benutzte Will die
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