Sara Linton 01 - Tote Augen
wäre Will ebenfalls Arzt geworden. Sara würde sehr schnell herausfinden, dass Will Analphabet war, und darüber war er froh, denn dann würde er nicht mehr viel Zeit mit ihr verbringen.
Anna erholte sich erstaunlich schnell. Sie würde das Krankenhaus bald verlassen können. Dem Baby ging es gut. Es gab keinen Grund, warum Will Sara Linton noch einmal sehen sollte, außer er war zufällig im Grady Hospital, wenn sie Dienst hatte.
Er vermutete, er konnte nur darauf hoffen, erschossen zu werden. Er hatte gedacht, Amanda würde genau das tun, als sie mit ihm heute Nachmittag ins Treppenhaus ging. Stattdessen hatte sie nur gesagt: » Ich habe lange darauf gewartet, dass Ihnen da unten mal Haare wachsen.« Nicht gerade eine Formulierung, die man von einer Vorgesetzten erwarten würde, nachdem man einen Mann beinahe bewusstlos geschlagen hatte. Jeder fand Ausreden für ihn, jeder deckte ihn, und Will schien der Einzige zu sein, der das für falsch hielt, was er getan hatte.
Er fuhr an der Ampel los und steuerte eines der schäbigeren Viertel der Stadt an. Er wusste schon fast gar nicht mehr, wo er Lola suchen sollte, und das machte ihm Sorgen, nicht nur weil Amanda gesagt hatte, er brauche morgen ohne die Nutte gar nicht zur Arbeit zu kommen. Lola musste über das Baby Bescheid gewusst haben. Mit Sicherheit hatte sie von den Drogen gewusst und davon, was in Anna Lindseys Penthouse vor sich ging. Vielleicht hatte sie noch etwas anderes gesehen – etwas, worüber sie nicht reden wollte, weil es ihr Leben in Gefahr bringen könnte. Vielleicht war sie aber einfach nur einer dieser kalten, gefühllosen Menschen, denen es egal war, dass ein Kind langsam starb. Es musste sich inzwischen herumgesprochen haben, dass Will ein Bulle war, der Leute verprügelte. Vielleicht hatte Lola Angst vor ihm. Verdammt, in diesem Foyer hatte Will einen Augenblick lang vor sich selbst Angst bekommen.
Er hatte sich wie taub gefühlt, als er zu Sara ging. Er dachte an all die Männer, die früher gegen ihn die Fäuste erhoben hatten. All die Gewalt, die er gesehen hatte. All die Schmerzen, die er erduldet hatte. Und weil er diesen Portier geschlagen hatte, war er genauso schlecht wie sie.
Er hatte Sara Linton von diesem Vorfall erzählt, weil er die Enttäuschung in ihren Augen sehen wollte, weil er mit einem einzigen Blick sehen wollte, dass sie ihn nie akzeptieren würde. Was er stattdessen bekam, war … Verständnis. Sie hatte eingeräumt, dass er einen Fehler gemacht hatte, aber sie hatte nicht angenommen, dass dieses Verhalten seinen Charakter definierte. Was für ein Mensch reagierte so? Keiner, den Will je kennengelernt hatte. Keine Frau, die Will je verstehen könnte.
Sara hatte recht damit, dass es beim zweiten Mal einfacher war, etwas Falsches zu tun. Will erlebte es die ganze Zeit bei der Arbeit: Wiederholungstäter, die einmal mit einer Tat durchgekommen waren und daraufhin beschlossen, auf ihr Glück zu vertrauen und es noch einmal zu versuchen. Vielleicht lag es in der menschlichen Natur, Grenzen zu überschreiten. Ein Drittel aller aufgegriffenen alkoholisierten Autofahrer wurde schließlich verhaftet, weil sie ein zweites Mal betrunken gefahren waren. Über ein Drittel aller gefangenen Gewalttäter waren entlassene Sträflinge. Vergewaltiger hatten die höchsten Rückfallquoten im Strafrechtssystem.
Will hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass das Einzige, was er in jeder beliebigen Situation kontrollieren konnte, er selbst war. Er war kein Opfer. Er war kein Gefangener seiner Wut. Er konnte sich entscheiden, ein guter Mensch zu sein. Sara hatte genau das gemeint. Bei ihr hatte es sehr einfach geklungen.
Und doch hatte er diesen eigenartigen Augenblick erzwungen, als sie beide nebeneinander auf der Couch saßen und er sie anstarrte, als wäre er ein Axtmörder.
» Idiot.« Er rieb sich die Augen und hätte damit am liebsten die Erinnerung selbst weggewischt. Es brachte nichts, an Sara Linton zu denken. Das führte zu nichts.
Vor sich sah Will eine Gruppe Frauen, die auf dem Bürgersteig herumstanden. Sie trugen alle unterschiedliche Fantasiekostüme: Schulmädchen, Stripperinnen, ein Transsexueller, der so aussah wie die Mutter aus der TV -Serie Erwachsen müsste man sein. Will kurbelte sein Fenster herunter, und in der Gruppe wurde wortlos entschieden, welche Frau man zu ihm schickte. Er fuhr einen Porsche 911, den er selbst von Grund auf neu hergerichtet hatte. Fast zehn Jahre hatte er für die Restaurierung des
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