Sara Linton 01 - Tote Augen
Wobei die Pappkartons und schwarzen Müllsäcke, die Jacquelyn am Bordstein gestapelt hatte, nicht als Müll gedacht waren. Charlie Reed hatte gesagt, er habe einen Goodwill-Laster verscheucht, kurz bevor Will und Faith eintrafen. Hatte er wirklich die Firma Goodwill gemeint, oder benutzte er den Begriff wie ein Generikum, so wie Leute zu Heftpflaster Hansaplast und zu Papiertaschentüchern Tempos sagten?
Die ganze Zeit hatten sie nach einer materiellen Verbindung zwischen den Frauen gesucht, etwas, das sie alle gemeinsam hatten. War Will gerade darüber gestolpert?
Die Haustür ging auf, und Judith trat heraus. Mit einem großen Karton in den Händen kam sie zögerlich die beiden Verandastufen herunter. Will stieg aus, lief zu ihr und fing den Karton auf, bevor sie ihn fallen ließ.
» Danke«, sagte sie. Sie war außer Atem, ihre Wangen waren gerötet. » Den ganzen Morgen versuche ich jetzt schon, dieses Zeug aus dem Haus zu bekommen, und Henry ist mir absolut keine Hilfe.« Sie ging zum Bordstein. » Stellen Sie ihn einfach da neben die anderen. Tom will später vorbeikommen und sie abholen.«
Will stellte den Karton auf den Boden. » Wie lange arbeiten Sie jetzt schon als Ehrenamtliche in dem Heim?«
» Ach …« Sie schien darüber nachzudenken, während sie zum Haus zurückging. » Ich weiß auch nicht. Seit wir hierhergezogen sind. Ich schätze, das sind jetzt ein paar Jahre. O Gott, wie die Zeit doch verfliegt.«
» Faith und ich haben eine Broschüre gesehen, als wir vorgestern im Heim waren. Da stand eine Liste mit Firmensponsoren darauf.«
» Die wollen was kriegen für ihr Geld. Sie sind nicht deshalb wohltätig, weil es moralisch richtig ist. Für sie ist das Werbung.«
» Auf der, die wir gesehen haben, war das Logo einer Bank.« Er erinnerte sich noch sehr gut an den Vierender-Hirsch unten auf der Broschüre.
» O ja. Buckhead Holdings. Sie spenden das meiste Geld, aber unter uns, es ist bei weitem nicht genug.«
Will spürte einen Schweißtropfen seinen Rücken hinunterrollen. Olivia Tanner war die PR -Managerin der Buckhead Holdings. » Was ist mit einer Anwaltskanzlei?«, fragte er. » Übernimmt irgendeine Kanzlei unentgeltlich Fälle für das Heim?«
Judith öffnete die Haustür. » Es gibt eine ganze Reihe von Kanzleien, die uns aushelfen. Wir sind ja ein Heim nur für Frauen, wissen Sie. Viele der Frauen brauchen Hilfe bei Scheidungen und einstweiligen Verfügungen. Einige haben Schwierigkeiten mit dem Gesetz. Das ist alles sehr traurig.«
» Bandle and Brinks?«, fragte Will und nannte den Namen von Anna Lindseys Kanzlei.
» Ja«, antwortete Judith lächelnd. » Die helfen uns ziemlich viel.«
» Kennen Sie eine Frau namens Anna Lindsey?«
Beim Hineingehen schüttelte sie den Kopf. » Wohnte sie im Heim? Es ist zwar eine Schande, aber es sind so viele, dass ich oft gar nicht die Zeit habe, mit jeder Einzelnen zu sprechen.«
Will folgte ihr ins Haus und schaute sich um. Es sah innen genauso aus, wie er es von außen vermutet hatte. Es gab ein großes Wohnzimmer mit Blick auf eine verglaste Veranda und den See. Die Küche lag auf der Garagenseite des Hauses, auf der anderen befanden sich die Schlafzimmer. Alle von der Diele abgehenden Türen waren geschlossen. Das Überraschendste war, dass das Haus aussah, als wäre darin ein Osterei explodiert. Überall stand schmückender Nippes herum. Häschen in pastellfarbenen Anzügen saßen auf jeder freien Oberfläche. Körbe mit Plastikeiern auf seidig grünem Gras standen auf dem Boden herum.
Will sagte: » Ostern.«
Judith strahlte. » Es ist mir die zweitliebste Zeit des Jahres.«
Will lockerte seine Krawatte, weil er spürte, dass er am ganzen Körper zu schwitzen anfing. » Und warum?«
» Die Wiederauferstehung. Die Wiedergeburt unseres Herrn. Die Reinigung von allen unseren Sünden. Vergebung ist ein mächtiges, veränderndes Geschenk. Ich sehe das jeden Tag im Heim. Diese armen, gebrochenen Frauen. Sie wollen Erlösung. Ihnen ist gar nicht bewusst, dass diese einem nicht so einfach gewährt wird. Vergebung muss man sich verdienen.«
» Verdienen sie alle Vergebung?«
» Ich glaube, bei Ihrem Job kennen Sie die Antwort darauf besser als ich.«
» Einige Frauen sind der Gnade also nicht würdig.«
Sie hörte auf zu lächeln. » Die Menschen glauben gern, dass wir uns seit biblischer Zeit weiterentwickelt haben, aber wir leben immer noch in einer Gesellschaft, in der Frauen ausgestoßen werden, nicht?«
» Weggeworfen wie
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