Sara
wie auf einer Fotografie. Ich sah es als Holzschnitt, als eine Illustration aus Grimms Märchen mit schroffen Kontrasten. Das Mädchen schaut mit großen Augen zu dem reichen alten Mann auf - einst ein Junge, der triumphierend auf einem gestohlenen Schlitten fuhr, und jetzt, am anderen Ende seines Lebens, auch nichts weiter als ein Sack voll Knochen. In meiner Vorstellung trug Ki eine Kapuzenjacke, und Devores Opamaske war ein klein wenig verrutscht, so daß man den Wolfspelz darunter erkennen konnte. Was hast du für große Augen, Großvater, was hast du für eine große Nase, Großvater, und was hast du auch für große Zähne.
»Er hob sie hoch. Ich weiß nicht, wieviel Anstrengung ihn das gekostet hat, aber er hat es geschafft. Und - das ist das Seltsame - Ki ließ sich hochheben. Er war ein vollkommen Fremder für sie, und alte Menschen scheinen Kindern immer irgendwie angst zu machen, aber sie ließ sich von ihm hochheben. ›Weißt du, wer ich bin?‹ fragte er sie. Sie schüttelte den Kopf, aber wie sie ihn ansah … Es war, als wüßte sie es fast . Halten Sie das für möglich?«
»Ja.«
»Er sagte: ›Ich bin dein Großpapa.‹ Und ich hätte sie ihm fast entrissen, Mike, weil ich diese verrückte Vorstellung hatte … ich weiß nicht …«
»Daß er sie auffressen würde?«
Die Zigarette verharrte vor ihrem Mund. Ihre Augen waren groß. »Woher wissen Sie das? Wie können Sie es wissen?«
»Weil die Szene vor meinem geistigen Auge aussieht wie im Märchen. Rotkäppchen und der alte graue Wolf. Was hat er dann gemacht?«
»Sie mit Blicken verschlungen. Seither hat er ihr beigebracht, Dame und Candyland zu spielen. Sie ist erst drei, aber er hat ihr Addieren und Subtrahieren beigebracht. Sie hat ihr eigenes Zimmer im Warrington’s, mit ihrem eigenen kleinen Computer drin, und Gott weiß, was er ihr daran beigebracht hat … aber beim erstenmal sah er sie nur an. Es war der gierigste Blick, den ich je in meinem Leben gesehen habe.
Und sie erwiderte den Blick. Es kann nicht länger als zehn oder zwanzig Sekunden gedauert haben, kam mir aber wie eine Ewigkeit vor. Dann versuchte er, sie mir zurückzugeben. Er hatte seine ganze Kraft verbraucht, und ich glaube, wenn ich nicht direkt danebengestanden hätte, um sie ihm abzunehmen, hätte er sie auf den Betonweg fallen lassen.
Er stolperte ein wenig, und Rogette Whitmore legte einen Arm um ihn. Da nahm er die Sauerstoffmaske von ihr - sie war durch einen elastischen Schlauch mit einer kleinen roten Sauerstoffflasche verbunden - und hielt sie auf Mund und Nase. Nach einigen kräftigen Atemzügen schien er wieder mehr oder weniger in Ordnung zu sein. Er gab Rogette die Maske zurück und schien mich zum erstenmal richtig zu sehen. Er sagte: ›Ich war ein Narr, nicht?‹ Ich sagte: ›Ja, Sir, ich glaube schon.‹ Er maß mich mit einem sehr finsteren Blick, als ich das sagte. Ich glaube, wenn er fünf Jahre jünger gewesen wäre, hätte er mich geschlagen.«
»Aber das war er nicht, und er hat es nicht.«
»Nein. Er sagte: ›Ich möchte hineingehen. Hilfst du mir dabei? ‹ Ich sagte, ja. Wir gingen die Stufen zur Leichenhalle hinauf, Rogette auf einer, ich auf der anderen Seite, und Kyra kam hinterher. Ich kam mir irgendwie wie ein Haremsmädchen vor. Es war kein sehr angenehmes Gefühl. Als wir ins Vestibül kamen, setzte er sich, um zu verschnaufen und wieder etwas Sauerstoff einzuatmen. Rogette wandte sich an Kyra. Ich finde, diese Frau hat ein furchterregendes Gesicht, es erinnert mich an irgendein Gemälde -«
» Der Schrei? Das von Munch?«
»Ich bin ziemlich sicher, daß es das ist.« Sie ließ die Zigarette - die sie bis zum Filter geraucht hatte - fallen, trat darauf und bohrte sie mit einem weißen Turnschuh in den harten, von Steinen
übersäten Boden. »Aber Ki hatte kein bißchen Angst vor ihr. Damals nicht, und später auch nicht. Sie beugte sich zu Kyra und sagte: ›Was reimt sich auf Frau?‹, und Kyra antwortete ›Blau!‹ wie aus der Pistole geschossen. Sie liebte Reime schon mit zwei Jahren. Rogette machte die Handtasche auf und holte eine Praline heraus. Ki sah mich fragend an, ob sie sie nehmen durfte, und ich sagte: ›Na gut, aber nur eine, und ich will nichts davon auf deinem Kleid sehen.‹ Ki nahm sie in den Mund und lächelte Rogette zu, als wären sie seit Ewigkeiten Freunde.
Inzwischen war Devore wieder zu Atem gekommen, aber er sah müde aus - der erschöpfteste Mann, den ich je gesehen habe. Er erinnerte mich an
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