Sara
gehorchte. Manchmal - eigentlich meistens - dachte ich: Manderley, ich habe wieder von Manderley geträumt . Das hatte etwas Unheimliches (ich glaube, jeder wiederkehrende Traum hat etwas Unheimliches, weil man weiß, daß das Unterbewußtsein hartnäckig nach einem vergrabenen Gegenstand wühlt, der sich nicht bloßlegen lassen
will), aber ich würde lügen, wenn ich nicht hinzufügen würde, daß ein Teil von mir diese atemlose sommerliche Ruhe genoß, in die der Traum mich stets hüllte, und dieser Teil genoß auch die Traurigkeit und das böse Omen, die ich verspürte, wenn ich erwachte. Der Traum hatte etwas seltsam Exotisches, das mir im Wachsein fehlte, nachdem die Straße aus meiner Fantasie so unüberwindlich versperrt war.
Ich erinnere mich, daß ich nur einmal richtig Angst hatte (und ich muß Ihnen sagen, daß ich diesen Erinnerungen nicht rückhaltlos traue, weil sie so lange gar nicht zu existieren schienen), als ich eines Nachts erwachte und in der Dunkelheit meines Schlafzimmers laut und deutlich sagte: »Etwas ist hinter mir, laß nicht zu, daß es mich erwischt, etwas im Wald, bitte laß nicht zu, daß es mich erwischt.« Nicht die Worte selbst ängstigten mich, sondern der Tonfall, in dem sie gesprochen wurden. Es war die Stimme eines Mannes am Rand nackter Panik und hatte kaum Ähnlichkeit mit meiner eigenen Stimme.
Zwei Tage vor Weihnachten 1997 fuhr ich wieder zur Fidelity Union, wo mich der Geschäftsführer der Bank erneut zum Schließfach in den neonbeleuchteten Katakomben führte. Als wir die Treppe hinuntergingen, versicherte er mir (mindestens zum dutzendsten Mal), daß seine Frau ein riesiger Fan meiner Romane sei, sie alle meine Bücher gelesen habe und gar nicht genug bekommen könne. Zum dutzendsten Mal (mindestens) antwortete ich, daß ich jetzt ihn in meine Fänge bekommen mußte. Er antwortete mit seinem üblichen Kichern. Diesen häufig wiederholten Wortwechsel bezeichnete ich immer als Bankiers-Kommunion.
Mr. Quinlan steckte seinen Schlüssel in Schlitz A und drehte ihn herum. Dann zog er sich so diskret wie ein Zuhälter zurück, der einen Freier zur Kammer einer Hure geführt hat. Ich steckte meinen eigenen Schlüssel in Schlitz B, drehte ihn um und machte die Schublade auf. Inzwischen sah sie ungeheuer groß aus. Die letzte verbliebene Manuskriptschachtel schien sich fast in die hintere Ecke zu drängen wie ein ausgesetzter Welpe, der irgendwie weiß, daß seine Geschwister
fortgebracht und ertränkt worden sind. Versprechen war in fetten schwarzen Buchstaben auf die Oberseite gekritzelt. Ich konnte mich kaum noch erinnern, worum es in der gottverdammten Geschichte ging.
Ich schnappte mir den Zeitreisenden aus den achtziger Jahren und knallte das Schließfach zu. Nun war nichts mehr drin als Staub. Gib das her , hatte Jo in meinem Traum gezischt - es war seit Jahren zum erstenmal, daß ich daran dachte. Gib das her, es ist mein Staubfänger.
»Mr. Quinlan, ich bin fertig«, rief ich. Meine Stimme hörte sich selbst für meine Ohren rauh und unfertig an, aber Quinlan schien nicht zu spüren, daß etwas nicht stimmte … vielleicht war er auch nur diskret. Schließlich kann ich nicht der einzige Besucher gewesen sein, der die Besuche in dieser Finanzversion von Forest Lawn als emotionale Belastung empfand.
»Ich werde wirklich eines Ihrer Bücher lesen«, sagte er und warf unwillkürlich einen verstohlenen Seitenblick auf die Schachtel, die ich in der Hand hielt (ich nehme an, ich hätte einen Aktenkoffer mitbringen können, um sie darin zu verstauen, was ich bei diesen Expeditionen aber nie tat). »Ich glaube, das setze ich auf meine Liste der guten Vorsätze für das neue Jahr.«
»Tun Sie das«, sagte ich. »Ja, tun Sie das, Mr. Quinlan.«
»Mark«, sagte er. »Bitte.« Auch das hatte er schon früher gesagt.
Ich hatte zwei Briefe geschrieben, die ich in die Manuskriptschachtel steckte, bevor ich sie zu Federal Express brachte. Beide hatte ich am Computer geschrieben, den mich mein Körper benutzen ließ, solange ich die Notizzettel-Funktion wählte. Nur wenn ich Word sechs öffnete, fing der Sturm an. Ich hatte nie versucht, einen Roman mit der Notizzettel-Funktion zu schreiben, weil ich wußte, ich würde diese Möglichkeit wahrscheinlich ebenfalls einbüßen … ganz zu schweigen von meiner Fähigkeit, auf dem Computer Scrabble zu spielen und Kreuzworträtsel zu machen. Ich hatte mehrmals versucht, mit der Hand zu schreiben, war aber kläglich gescheitert. Das
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